Die weiße Jungfrau und der Schustergesell.
Vor ungefähr siebzig Jahren ging eines Sonntags ein katholischer
Schustergesell, der zu Britzingen in Arbeit stand, auf das verfallene
Bergschloß Neuenfels. Dort kam eine schneeweiße Jungfrau zu
ihm und fragte, was er da mache, und ob er sich in der öden Burg
nicht fürchte. Auf die Antwort: daß er sich Haselnüsse
breche und, da er niemand etwas zu Leid thue, keinen Grund zur Furcht
habe, hieß sie ihn mit ihr gehen, was er auch ohne Bedenken that.
Bei einem Steine öffnete sie, mit einem Schlüssel ihres Gebundes,
die eiserne Pforte eines unterirdischen Ganges, der sein Licht durch Zuglöcher
an der Decke erhielt. Als sie hindurch gegangen waren, kamen sie, mittelst
der Schlüssel, nacheinander in drei mit Eisenthüren versehene
Gewölbe, in deren jedem ein großer schwarzer Hund viele Kisten
bewachte. Auf Geheiß der Jungfrau sprangen die Hunde von den Kisten
herab, sie machte diese auf, die im ersten Gewölbe waren mit Silbergeld,
die im zweiten mit Goldmünzen, die übrigen mit kostbarem Schmuck,
goldenen und silbernen Gefäßen angefüllt. Nachdem der
Gesell alles betrachtet hatte, führte ihn seine Begleiterin wieder
zurück und auf den Platz, wo sie zuerst ihn getroffen. Daselbst sprach
sie zu ihm Folgendes: "Du kannst mich erlösen, und dir dadurch
alle die Schätze, so wie deinem Hause immerwährendes Glück
verschaffen. Komme drei Samstage hintereinander, Abends nach der Betglocke,
auf das Schloß, wo du mich stets auf dem Stein bei der Thüre
des unterirdischen Ganges finden wirst. Von dort trage mich jedesmal auf
deinem Kopfe, da, wo du den heiligen Chrisam empfangen, bis zu diesem
Steine hier. Reden mußt du nichts, dich auch durch das, was dir
etwa begegnet, nicht schrecken lassen; denn es wird dir kein Haar beschädigt."
Der Bursch versprach, alles zu thun, kam auch die beiden folgenden Samstage
zur bestimmten Zeit in die Burg und trug auf seinem Kopfe die Jungfrau
von dem einen Stein zum andern, ohne auf ein Hinderniß zu stoßen.
Als er am dritten Samstag den Schloßberg hinanstieg, blitzte und
donnerte es, und ein Tonspiel ließ sich hören; allein er ging
getrost hinauf und begegnete einer alten Frau, welcher aus der Nase der
Rotz, gleich einem Eiszapfen, bis auf den Bauch hing. Sie fragte ihn nach
dem Weg auf einen benachbarten Ort, wo sie morgen bei einer Hochzeit zu
kochen habe. Ohne ihr zu antworten, sagte er leise vor sich hin: "Du
magst mir eine schöne Köchin sein, mit deiner silbernen Rotznase!"
Kaum hatte er dies gesprochen, so verschwand die Frau, und es krachte
so fürchterlich, wie wenn der ganze Wald zusammenbräche. Entsetzt
entfloh er, und obgleich die weiße Jungfrau, vom unterirdischen
Gang her, ihm zurief: "Freund, sei standhaft und vollbringe dein
Werk, es wird dir kein Haar beschädigt!" so ließ er sich
doch nicht halten. "Wehe mir, die Eichel ist noch nicht im Boden,
aus deren künftigem Stamm die Wiege des Jünglings gemacht wird,
der mich wieder erlösen kann!" dies hörte er auch noch
die Jungfrau ihm nachrufen; allein er eilte unaufhaltsam fort und kam
ganz verstört nach Hause. Im Gefühl seines nahen Todes verlangte
er einen Beichtvater seines Glaubens, erzählte ihm und seinem Meister,
was ihm auf der Burg widerfahren und starb am folgenden Morgen.
Quelle: Bernhard Baader, Volkssagen aus dem Lande
Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1851, Nr. 36.