KINDERWALLFAHRT
Im Jahre 1448 hat es sich zugetragen, daß zu Schwäbisch-Hall am Donnerstage nach Pfingsten plötzlich eine Sucht die Knaben überkam, nach Sankt Michael in der Normandie zu wallfahren, und gingen ihrer über zweihundert an der Zahl wider den Willen ihrer Eltern auf einmal von dannen, denn sie wurden von dieser Sucht ganz schnell und plötzlich erregt und ließen sich nicht einmal von ihren eigenen Müttern halten, auch erfolgte bei einigen, welche mit Gewalt zurückgehalten wurden, alsbald der Tod. War wohl, wie ein alter Chronikenschreiber sagt, eine seltsame und wunderliche Begeisterung. Da sich die Knaben nicht halten ließen, so gab ihnen der für das Wohl der Stadtkinder besorgte Rat zum Geleit einen Schulmeister und einen Esel mit, damit ihnen nichts Böses zustoße. In so guter Gesellschaft mag wohl die weite Reise und Betfahrt glücklich vonstatten gegangen sein. Nachderhand erfolgte eine große Pest, und war es vielleicht Gottes Hand, welche den Knaben winkte, dieser zu entgehen. Wunders genug war es, daß diese Knaben so weit außer Landes begehrten und zogen, da es doch im Schwaben- wie im benachbarten Franken- und Bayernlande der berühmtesten Wallfahrtsorte eine übergroße Menge gab.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch,
Leipzig 1853