Der Ochs am Bodensee
In Oberschwaben fütterten die Bauern ehedem ihre Ochsen dergestalt,
daß sie eine ungeheure Größe erreichten. Da behagte es
einmal einem solchen Ochsen nicht mehr in seinem Stall; er brach aus und
lief fort, bis er an den Bodensee kam. Da stutzte er eine Weile, besann
sich aber nicht lange, sondern spazierte in das Wasser hinein und nahm
bei jedem Schritt einen Schluck zu sich, und das ging so fort, bis er
durch den ganzen See hindurchgegangen war und auf der anderen Seite am
Schweizer Ufer wieder herauskam. Da hatte er so nebenbei im Gehen den
ganzen See ausgetrunken. Nun dachte der Ochs, er wolle sich doch auch
die Schweiz ein wenig ansehen und ging hinein. Wie er nun einmal stillstand
und sich die fernen Berge ansah, kam ein mächtiger Vogel und setzte
sich auf das eine Hörn des Ochsen. Nach einer Weile schüttelte
der Ochs ganz ruhig nur ein wenig seinen Kopf, worauf der Adler fortflog
und sich auf das andere Hörn setzen wollte. Bis er dies aber erreichte,
brauchte er nicht weniger als zwei volle Stunden. Da kann man sich wohl
denken, was das für ein großer Ochs gewesen sein muß.
Quelle: Johannes Wilhelm Wolf, Erster Band der Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde. Göttingen 1853, S. 439