Das rote Licht

In diesem Fausttürmlein zeigte sich aber noch etwas anderes. Das hing mit dem Scharfrichter zu München zusammen. Zu wissen:

Mit Absicht ward bei uns sicher keiner vom Leben zum Tod gebracht, wenn er unschuldig war. Gleichwohl traf es ein oder das anderemal im Lauf der Jahrhunderte zu, daß einer aufs Hochgericht mußte, obwohl er nichts Böses getan hatte – die Richter waren eben im Irrtum, und wie die Wege des Schicksals sonst noch wunderbar sind.

Wie dem nun sei, wenn einer unschuldig starb, blieb es nie verborgen. Denn da erglomm in der folgenden Mitternacht das Fausttürmlein in blutrotem Licht und zugleich tat es drei schwere Schläge, gleich wie mit einem Richtschwert, an des Scharfrichters Wohnung, welche früher innerhalb der Stadtmauer auf dem freien Platz unterm Türmlein befindlich war.

Wenn nun der Scharfrichter die drei Schläge hörte und die blutrote Helle sah, ließ er sich nicht beifallen, die Türe aufzuschließen und zu fragen, wer da klopfe und was es da mit dem roten Lichte sei; denn der wußte von Urgroßvaters zeiten oder noch weiter her, was die Sache zu bedeuten habe.

Das Nächste, was er tat, war also nur, daß er sogleich niederkniete, mit lauter Stimme ein Vaterunser und Ave Maria um das andere betete, bis es ein Uhr von der inneren Stadt herüberschlug, und mit dem Schlag verschwand und verlöschte auch das rote Licht. Dann legte sich jener wieder auf seinen Pfühl, konnte aber begreiflich nicht mehr schlafen und am Morgen zeigte er beim Rat an, was heute Nacht vorgegangen sei. Auf das begaben sich die Leute sogleich in Kirchen und Kapellen; denn man glaubte nichts anderes, als daß die drei Schläge und das rote Licht ein Wahrzeichen für oder von dem unschuldig Verstorbenen gewesen sei, und so betete man eifrig für seine Seele und noch mehr dafür, daß der wirklich Schuldige entdeckt werde.

Dies traf auch ein paarmal ein. Das erstemal mit einem Goldschmied unweit des schönen Turmes, das zweitemal mit einer Dienstmagd, die ihr Stüblein zuhöchst in einem Hause unweit der Dienergasse hatte. Die beiden starben unschuldig, wie jeder weiß. Eine Dohle und ein Rabe waren die Schuldigen. Was mit denen geschehen ist, darüber verlautet keine Kunde.

Quelle: Münchner Stadtbüchlein von Trautmann (Augsburg M. Seitz).
Altbayerische Sagen, Ausgewählt vom Jugendschriften-Ausschuss des Bezirkslehrervereins München, München 1906.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2013. 
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