Der Herrgott in der Rast

Im 17. Jahrhundert zog sich der ausgedehnte Perlacher Forst noch hart bis an die kleine Ortschaft Giesing heran und das satteltürmige, weißgetünchte Dorfkirchlein, das sich auf gacher Bergeshöhe erhob, grüßte hinab in den bewaldeten Mühlengrund, wo sich die grüne Falkenau mit den herzoglichen Jagdgründen ausbreitete. Friede herrschte in dieser damals so einsamen Gegend, wenn nicht gerade das herzogliche Halali durch die weiten Wälder scholl. Leider blieb es nicht immer so. Es kam der verheerende Dreißigjährige Krieg. Mit ihm drang die Pest in das Land. In der Au und in Giesing starben so viele Leute, daß man, um die Toten bestatten zu können, in Obergiesing einen eigenen Pestfriedhof anlegen mußte.

In jenen schweren Tagen, so meldet die Sage, stand draußen am Giesinger Waldrand der Roßtalerhof. Er gehörte dem Jörg, einem wohlhabenden freien Bauern, und zählte zu den schönsten Höfen des Ortes. In jedem Jahre lag Segen über seinen Feldern und keine Krankheit störte das häusliche Glück. Als sogar die ersten Pestjahre den Hof verschonten, ging der Roßtaler Jörg nach München hinein, ließ sich von einem guten Schnitzer eine lebensgroße Statue, die den in Ketten gelegten Christus darstellte, fertigen und stellte sie nach ihrer Vollendung in der Herrgottsecke seines Anwesens auf. Jeden Tag kniete er vor dem Christusbild und dankte Gott für die Erhaltung seiner Lieben. Die schweren Zeiten waren aber noch lange nicht zu Ende, denn nach wenigen Jahren trat die Pest abermals in der Umgebung auf und schonte diesmal weder arm noch reich. Auch in den Roßtalerhof drang der Pesthauch. Knechte und Mägde fielen hin und in einer stürmischen Nacht holte man auch des Roßtalers Weib. „Herrgott, Herrgott, laß mir wenigstens meine Kinder!“ schrie da verzweifelt der Roßtaler und fiel vor dem Christusbild in die Knie. Doch alles war umsonst. Kind um Kind starb, und als man sein letztes auf den Pestacker gebracht, da stürzte sich Jörg, seiner Sinne nicht mehr mächtig, auf die Christusstatue und schleuderte sie vor das Haus. Noch am selben Tage nahm die Pestilenz zu und am andern Abend war auch der Roßtaler tot. Die verzweifelten Giesinger und Auer wußten nun nimmer Rat. Sie glaubten, daß die Zunahme der Pest durch das gotteslästerliche Tun des toten Jörg verursacht worden sei, und brachten deshalb die Christusstatue in das Giesinger Bergkirchlein. Nach einigen Wochen wallfahrteten die Bewohner von Giesing und der Au mit dem „Herrgott in der Rast“ (so wurde später die Christusstatue genannt) nach Ramersdorf, um in der dortigen Gnadenkirche das Verschwinden der Pest zu erflehen. Von dieser Zeit an nahm die Seuche allmählich wieder ab. Der mit einem roten Mantel bemalte „Herrgott in der Rast“ blieb fortan in der Giesinger Kirch und wurde sehr verehrt. Als 1889 die alte Giesinger Kirche abgebrochen wurde, kam der mit einem Mantel aus blauer Seide behängte „Herrgott in der Rast“ in den Giesinger Pest-Gottesacker, wo er bis zum Jahre 1894 zu sehen war.

Quelle: Willy Rett, Münchener Neueste Nachrichten 1911.
Altbayerische Sagen, Ausgewählt vom Jugendschriften-Ausschuss des Bezirkslehrervereins München, München 1906.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2013. 
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