222. Heinrich Findelkind von Kempten.
Der Mayr von Kempten, von seinem Abte geliebt und durch diese Gunst,
durch rastlosen Fleiß und Segen von oben bereichert, hatte neun
Söhne. Dazu wurde ihm ein zehnter Knabe bei Nachtzeit vor die Türe
seines Hauses gelegt; die Hausfrau und Ehewirtin murrte: es seien der
Kinder ohnehin schon genug. Aber der Hausherr erbarmte sich des armen
Wurmes, seiner schönen Gestalt und rührenden Unschuld, und so
hatte er nun zehn Kinder und zog sie alle glücklich auf. Aber er
hatte Bürgschaft getan für einen Freund, dem war das Glück
untreu. Betrüger brachten ihn um einen großen Teil des Seinigen.
Meeresstürme begruben mehrere seiner Schiffe in den Abgrund. - "Bürgen
muß man würgen," - sagt ein altes, aber nicht gutes Sprichwort,
und so erging es auch dem armen Mayr von Kempten. Er verdarb gänzlich.
Mit sich und der Welt zerfallen wurde der fröhliche Mann ein Menschenfeind
und selbst den eigenen Kindern abhold. Er schlug sie und trieb sie aus
dem Hause, daß sie dienten und ihm aus dem Brot kamen. Der zehnte,
der arme Heinrich Findelkind, war am schlimmsten daran. Aber er lief doch
lieber in die unbekannte große, weite Welt hinaus, als daß
er sich zu Hause totschlagen ließ. Da fanden an der Heerstraße
zwei Priester, die nach Rom zogen, den weinenden Knaben, trösteten
ihn, gaben ihm Brot; mit ihnen ging er über den Arlberg. Drüben
wohnte ein rauher und streitbarer, aber frommer Ritter. Man hieß
ihn nur den Jackl über Rhein. Der gab den Priestern reichlich Almosen
und fragte: "Wo wollt ihr mit dem Knaben hin?" Sie erwiderten:
"Er ist uns zugelaufen auf dem Feld." Darauf der Ritter: "Laßt
ihn mir, daß er meine Schweine hüte!" Die Priester antworteten:
"Er kann tun, was er will," und Heinrich Findelkind wurde Knecht
und Schweinehirt beim Jackl über Rhein, erhielt des Jahres zwei Gulden
Lohn, ging fleißig jeden Sonntag mit dem Ritter in die Kirche und
trug ihm das Schwert nach. Wie sie da, dem fernen Geläute nach, den
Berg hinabstiegen, brachte man ihnen oft viele Leichen entgegen von unglücklichen
Pilgern, die des Winters auf dem Arlberg in Schneegestöber oder unter
Lawinen zugrund gegangen. Raubvögel und Raben hatten ihnen die Augen
ausgehackt, die Kehlen abgefressen und sie auf mannigfache Weise verunstaltet.
Das erbarmte den Heinrich Findelkind so sehr, daß er bitterlich
weinte und ein heiliger Eifer in ihn drang solches Unglück zu verhüten.
In vollen zehn Jahren hatte er fünf Gulden in allem ausgegeben und
also noch fünfzehn Gulden übrig von seinem Verdienst mit dem
Hirtenstab. Da trat er eines hohen Festtages vor die Kirchtür mit
dem Ausrufe: Ob jemand die fünfzehn Gulden nehmen wollte und damit
einen Anfang machen auf dem Arlberge, daß die armen Pilger nicht
also verdürben. Aber die Leute lachten vielmehr des törichten
Beginnens eines Betteljungen, und niemand wollte die erste Hand anlegen.
Da rief Heinrich Findelkind von Kempten zu Gott dem Allmächtigen
und zu St. Christoph dem starken Nothelfer und rettete gleich den ersten
Winter sieben Menschen das Leben und ein paar Jahre darauf über fünfzig
Menschen. Darauf stiftete er eine eigene Bruderschaft St. Christophs auf
dem Arlberg und zog für diese edle Bruderschaft bettelnd durch alle
Länder und erhielt reiche Gaben. Die Kirchenfürsten von Salzburg,
Chiemsee, Freising, Passau, Regensburg, Augsburg und Würzburg gaben
ihm reichen Ablaß. Das Bruderschaftsbuch nennt unter den vorzüglichsten
Wohltätern unter andern auch die Landgrafen von Leuchtenberg und
Grafen von Montfort und Ortenburg und viele andere Ritter. Herzog Leopold
der Stolze von Österreich bezeigte im Dezember 1386, nachdem im Juli
vorher sein Vater bei Sempach wider die verachteten und verspotteten Schweizerbauern
mit dem Kern seines stolzen Adels gefallen, es sei der arme Knecht Heinrich
von Kempten, in seiner Jugend ein Findelkind, mit großer Andacht
und Begierde vor ihn gekommen, daß er wollte gern ein Haus bauen
auf dem Arlberg und in dieser Wildnis wohnen und sitzen, vorzüglich
damit die armen Pilger und Kaufleute nicht ferner so elend zugrunde gingen.
Es seien ja viel gute Dinge angefangen worden von einfältigen Leuten.
Darum befehle er allen seinen Hauptleuten und Richtern, ihn dabei zu schützen
und zu schirmen. Des armen Hirtenknaben und Findelkinds von Kempten edles
Werk begann und bestand durch mehrere Jahrhunderte. Es erhielt Tausenden
das Leben und sicherte einen für den Handel wichtigen Straßenzug.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen,
Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt
von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 222, S. 231ff.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.