293. Der Küchelfresser in Hinterstein.
Von Hinterstein führt ein Fußsteig hinüber ins Tannheimertal, das schon österreichisch ist, dessen Bewohner aber ebensogut wie die Hindelanger zu den Urallgäuern gehören. Da drüben sind sehr arme Leute, viel ärmer als die Hintersteiner, die bei ihrer Genügsamkeit und Sparsamkeit recht gut auskommen und selbst den Armen aus der Umgegend Almosen reichen können.
Da ist denn auch einmal ein Bettelmann herübergekommen aus dem Tannheimertal
oder gar aus Tirol nach Hinterstein, da man hier gerade die Kirchweih
feierte. Der fing an in den Häusern herum Kücheln zu sammeln,
bekam auch im ganzen siebenundsiebenzig Kücheln zusammen und außerdem
noch, was er gerade notwendig hatte, um seinen allergrößten
Appetit zu stillen. Die siebenundsiebenzig Kücheln steckte er alle
in seine Betteltasche, um sie nach Hause zu bringen und auf längere
Zeit etwas zu haben. So machte er sich auf den Weg, nicht hungrig, aber
auch nicht übersättiget. Wie er den Fußsteig neben dem
Wasserfall erreicht hatte, da wandelte ihn gleich in der ersten Krümmung
schon eine Lust an nach den siebenundsiebenzig Kücheln, und er meinte,
er sollte jetzt wohl eines davon essen; auf eins käme es gerade nicht
an. Und wirklich verzehrte er im ersten Rank das Küchlein, welches
ihm aber so trefflich schmeckte, daß er im zweiten Rank zum zweiten
schritt und dasselbe mit ebenso großem Appetit verzehrte. Und wie
er im dritten Ranke das dritte und im vierten das vierte der Kücheln
verzehrt hatte, da meinte er, es wäre doch eine nicht zu verachtende
Herzstärkung, wenn er in jedem Rank so eins von den Kücheln
verzehren würde. Der Weg wäre dann lange nicht so langweilig,
und bis er mit den siebenundsiebenzig Kücheln fertig wäre, wäre
er auch mit den siebenundsiebenzig Ränken oder Krümmungen fertig
und hätte das höchste erstiegen. Und so tat er denn auch wirklich,
und wie er die siebenundsiebenzigste Krümmung erstiegen und das siebenundsiebenzigste
der Kücheln gegessen, da hat es ihm den Magen "verschränzt",
so daß er "verschnöllte" oder zerplatzte. Die einen
sagen so, die anderen sagen anders; aber darin kamen sie alle überein,
daß er tot geworden sei, ob am Essen oder am Steigen oder an beiden
zugleich, kann man nicht bestimmt sagen. Und seit dieser Geschichte hütet
sich jeder, der da hinansteigen muß, unterwegs etwas zu essen; er
fürchtet, es gehe ihm wie dem Küchelfresser aus Tannheim.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers
"Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus"
ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 293,
S. 301ff.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.