9. Die Palastfrau auf dem Hauchenberg.

Auf dem langgestreckten Hauchenberg befindet sich hoch oberhalb Waltrams gegen Diepolz zu eine Stelle, wo die aufragenden "Nagelfelsen" sich zu einem weiten, großen Bogen aufwölben und eine Art Grotte bilden, die man den "Palast" heißt, weil hier vor Urzeiten ein Schloß gestanden habe. Auch führte da früher durch den Felsen ein weiter "Schranz" (Kluft) in die Tiefe und in das Innere des Berges, wo die reichen Schätze des versunkenen Schlosses ruhen und der Hebung harren. Wenn man durch diese klaffende Felsspalte, die aber jetzt von den abstürzenden Bruchstücken verschüttet ist, Steine hinabwarf, hörte man sie lange Zeit kollern und poltern, bis sie mit eigentümlichem, dumpfem Tone, der wohl von den gefüllten Schatzkisten herrührte, unten auffielen.

Hier wohnte die "Palastfrau", die man oft in der Nähe sitzen sah, wie sie an einer Esels- oder Rehhaut nähte und, wenn sie ein Loch zugenäht hatte, ein neues aufriß, und die man deshalb vielfach auch die "Palastnäherin" hieß, während sie von manchen die "Palastkäter" genannt wurde.

Sie ist eine Wetterhexe und hat ihre Freude daran, durch böse Wetter den Leuten zu schaden oder im Walde sie irre zu führen. Gern nähert sie sich kleinen Knaben, selbst am hellen Tage, winkt ihnen und bietet viel Geld an, wenn sie ihr folgen wollen. Ein Knabe aus der Weitnau tat dies einmal und sah schon die reichen Schätze, die der Frau gehörten, erblickte aber über denselben einen schwarzen Pudel. Da erschrak er so sehr, daß er den Topf, in dem er den Arbeitern das Essen bringen sollte, fallen ließ und mit dem zerbrochenen Deckel in die Heimat zurücklief.

An Sonntagen nachmittags, wenn die Knaben beim Spiele (Sautreiben) beisammen waren, zeigte sie sich gar oft und lud sie allesamt ein. Allein die Knaben liefen immer voll Schrecken davon.

Wenn sonst etwa Kinder, die recht arm waren, in die Nähe kamen, erschien sie zuweilen und brachte ihnen Gaben und Geschenke, z. B. Strümpfe und Kleider oder den Mädchen Schürzen. Am öftesten zeigte sie sich indes den Hirten, die in der Nähe das Vieh hüteten. So kam sie auch einmal zu dem Hirtenknaben des Hundbißschen Anwesens in Waltrams, redete ihn gar freundlich an und sprach: "Büeble, magst du nicht mit mir gehen? Komm mit! Ich zeige dir viel Geld, und davon kannst du nehmen, soviel du willst." Weil die schön gekleidete Frau so freundlich war, so ging der Junge mit, und sie gelangten zu dem Palaste. Allein wie er da hätte zu einem Loch hineinkriechen sollen, wo er eine große Geldkiste finden würde, und weil er schon unterwegs bemerkt hatte, daß seine Führerin Geißfüße hatte, die von dem schönen Gewand nicht ganz verdeckt geblieben, so überkam ihn große Furcht und Entsetzen, und er sprang eiligst den Berg hinab und davon. Die Palastfrau fing nun aber an zu weinen und zu klagen, daß sie nun wieder nicht erlöst worden sei und es fürderhin nicht eher werden könne, bis an einem Karfreitag drei Knäblein geboren würden, die alle drei sich dem geistlichen Stande widmen und an einem und demselben Tage die erste heilige Messe lesen würden.

Einmal wollten es aber zwei Hirten doch versuchen zu dem Schatze zu gelangen, und sie begaben sich beim Palaste zu der Felsspalte, die damals noch nicht verfallen war, und wollten mit einem Lichte in derselben vordringen. Allein dieses löschte ihnen jedesmal aus, bis sie sich endlich einen geweihten Wachsrodel verschafften, diesen aufwickelten, in Stücke zerschnitten, zu einer dicken Kerze zusammendrehten und dann anzündeten. Da gelangten sie tief in den Berg hinein und endlich zu einer großen Truhe. Als sie aber auf derselben den großen Pudelhund mit den fürchterlichen Augen und einem Schlüssel überzwer im Maule erblickten, verloren sie allen Mut und eilten erschrocken den Gang wieder hinaus.

Die Palastfrau kam zuweilen selbst bis in die Häuser. So war einmal eine Bäuerin am Sonntag während des Vormittagsgottesdienstes zu Hause um die Kinder zu überwachen. Sie ging mit dem Kinde auf dem Arme auf den Söller, um von da aus die Predigt in der ganz nahe gelegenen Kirche zu hören. Plötzlich stand die Palastfrau vor ihr. Bei diesem Anblicke erschrak die Mutter samt dem Kinde so heftig, daß sie gar nicht mehr wußte, wie sie in die Stube zurückkam.

Auch einem Wildschützen erschien sie einmal. Der Hund gewahrte sie zuerst, kam mit eingezogenem Schweife zu ihm hin, winselte gar ängstlich und schmiegte sich an ihn heran. Bald darauf sah er die Palastfrau selber, gar ernst auf dem Bergrücken einherschreitend, ihn ganz verdrossen anblickend und mit erhobenem Finger ihm drohend. Im größten Schrecken eilte der Wildschütze nach Hause, ward sterbenskrank und konnte erst nach mehreren Wochen wieder seiner Arbeit nachgehen. In seinem ganzen Leben ging er nie mehr dem Wilde nach, und wenige Wochen vor seinem Tode offenbarte er die Geschichte seinem Pfarrer.

Über die Herkunft der Palastfrau erzählt man vielfach folgendes: An der Stelle, die jetzt noch Palast genannt wird, stand ehedem ein Schloß, das zwei Schwestern bewohnten, von denen eine blind war; die andere soll eine Näherin gewesen sein. Sie besaßen ungeheure Reichtümer, daß sie das Geld in Metzen messen mußten. Da kam es, daß sie einmal teilen wollten, damit jede ihren Teil besonders habe. Die Sehende nahm den Metzen und füllte ihn für sich bis zum Rande voll an; so oft aber der Blinden ihr Teil zugemessen werden sollte, kehrte sie das Gefäß um und belegte nur den Boden mit Geld. Dann ließ sie die Betrogene darüber hinwegtasten, sich zu überzeugen, daß richtig gemessen worden sei. Auf diese Weise bekam die Sehende das Geld fast alles, mußte aber für den Betrug, nachdem die Burg versunken war, geisten und die Schätze im Bergesschloß hüten. Seitdem ging sie auch um, scheint aber jetzt doch erlöst worden zu sein, wozu ihr wohl ein früherer Pfarrer von Diepolz verhelfen haben wird. Derselbe ging nämlich einmal nachts von der Weitnau heimwärts und glaubte immer auf dem rechten Weg zu sein, den er genau kannte, bis er plötzlich fühlte, daß er in der Nähe des Palastes bös in den Felsenwänden hing und nicht mehr weiter konnte. Auf seine Hilferufe kamen einige Bauern von Waltrams mit Laternen und befreiten ihn aus seiner schlimmen und gefährlichen Lage. Er konnte sich den Vorfall nicht anders erklären, als daß ihm da die Palastfrau einen Streich gespielt habe, und sagte, man solle ihn nur schalten lassen, er werde dafür sorgen, daß hier künftig niemand mehr von der Hexe irre geführt oder belästigt werde. Was er alles getan, weiß man nicht; aber wirklich hat seitdem nie jemand mehr, der über den Hauchenberg nach Diepolz wollte, Anstände bekommen, während das vorher oft der Fall war und es nicht selten vorkam, daß der Geist auch in Gestalt eines weißen Hundes die des Weges Kommenden von der Nähe des Palastes bis zum Kreuz begleitet hat.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 9, S. 14 - 18.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.