230. Die drei Schwestern und der Drache auf Schloß Hohenegg.
Auf einem hohen Felsen des Schüttentobels unweit Ebratshofen stand ehedem das Schloß Hohenegg. Noch im vorigen Jahrhundert war außer den spärlichen Ruinen nur ein uralter Turm zu sehen, der wohlerhalten über den Felsen emporragte; jetzt finden sich nur mehr wenige Reste der Grundmauern vor. Auf diesem Schlosse wohnten in alten Zeiten drei Schwestern, und fast jeden Tag sah man dieselben mit ihren Rocken und einem Korbe voll Spindeln am Gitter eines der Schloßfenster sitzen. Bald zu Mittag, bald zur Nachtzeit sah man sie aus ihrem Schlosse hervorkommen, wo sie dann an den Bach des Schüttentobels gingen und sich kämmten. Man sah sie auch Leinwand im Sonnen- und Mondschein bleichen und aufhängen, und bei bevorstehender Wetteränderung sahen die Leute öfters ein glänzendes Rad sich drehen, das sie den goldenen Garnhaspel der Burgfräulein nannten.
Einst fiel eine der Schwestern vom Fenster des Schlosses über den Felsen herab. Sie würde zu Tode gefallen sein, wenn sie nicht mit ihrem Zopfe an einer Buche hängen geblieben wäre. Zum Andenken an ihre Rettung schenkte sie der Kirche zu Ebratshofen für das ewige Licht den "Lisabethenbrühl", ein Stück Feld.
Auf dem Felsen war auch ein Basilisk, der die Menschen schon durch seinen
bloßen Anblick vergiftete. Der "Drache" hatte Flügel,
Goggelerfüße und einen Schlangenschwanz, sowie funkelnde Augen,
deren Blick Tod und Verderben brachte. Eines Abends ging ein frecher Bursche
aus Ebratshofen am Schlosse Hohenegg vorbei und schrie Worte des Hohnes
zu dem Turme des Schlosses hinauf. Da rauschte der ungeheure Drache, laut
mit den Schuppen rasselnd, aus dem nahen Gebüsche und verlegte dem
Burschen den Weg, indem er sich noch zu allem Überflüsse gewaltig
aufbäumte. Aus dem Rachen zischten rote Flammen in knisternden Funken
zu dem Erstarrenden herüber, der vom Schauer geschüttelt ohnmächtig
zusammenbrach. Als er erwachte, geschüttelt vom Fieberfroste, war
die Geisterstunde schon längst vorbei. Mühsam schleppte sich
der Bursche heim und wurde dann auf das Krankenlager geworfen. Er bekam
das hitzige Nervenfieber, und sein Leben schwebte lange in Gefahr. Nach
vielen Wochen kam er wieder das erstemal in die Stube hinunter. Seine
Gestalt war zu einem Schatten zusammengeschwunden. In seiner Krankheit,
während welcher er zwölf Tage fortwährend von Sinnen gewesen,
hatte er immer von dem Drachen phantasiert, der noch "wüster"
und "kehler" als der Bullemann ausgesehen habe. So begierig
die Leute lauschten, um zu erfahren, was ihm begegnet sei, konnte doch
niemand aus seinen Reden klug werden. Es kam alles durcheinander. Der
Bursche erholte sich nie mehr vollends; seine frühere Kraft, Frische
und sein trotziges Wesen waren dahin. Erst später erzählte er
einigen Nachbarsleuten von seinen Schmähworten auf den Drachen, und
wie es ihm dann ergangen. Anderthalb Jahre nach dieser fürchterlichen
Begegnung sank er ins Grab.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers
"Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus"
ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 230,
S. 242f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.