191. Versunkenes Dorf im Almajurtal.

In dem Seitentale des Lechtels, wo jetzt die Alpe Almajur liegt, stand einst ein schönes Dorf. Es hatte in der Nähe ein Silberbergwerk, und die Leute wurden davon steinreich. Allein der Reichtum machte sie stolz und übermütig. So schlossen sie zum Beispiel Türen und Fensterläden bei helllichtem Tage, weil sie nach ihrer Meinung Gottes Licht nicht brauchten und ihre Stuben und Säle selbst erleuchten konnten. Endlich war das Maß ihrer Frevel voll, und das ganze Dorf mit der schönen Kirche versank in einer stürmischen Nacht, so daß man keine Spur mehr davon sah. Lange Zeit nachher, vor etwa hundert Jahren, ging einmal ein Mann aus dem Dorfe Hägerau noch spät an diesem Platze vorbei. Da kam er zufällig in einen unterirdischen Gang, zündete sich eine Kerze, die er bei sich hatte, an und ging weiter, bis er in das Chor der versunkenen Kirche kam. Von Staunen wäre er bald umgesunken, als er den Hochaltar mit funkelnden Silberleuchtern und im schönsten Schmucke sah. Als er sich gesammelt hatte, nahm er einen Leuchter, besah sich alles genau und trat dann den Rückweg an. Er wollte die Kirche eben verlassen; da sah er im hintersten Betstuhle einen alten Mann schlafen, der sich aber bald aufrichtete und den Bauer nach dem Jahre der Zeitrechnung fragte. Als der Alte die Antwort erhalten hatte, seufzte er: "Es ist noch nicht Zeit" und sank wieder auf die Bank zurück. Da packte den Mann kalter Schauder, er stürzte fort und eilte über Stock und Stein nach Hause. Hier angekommen, erzählte er seinem Weibe alles, was er gesehen und gehört hatte, und zeigte ihr den kostbaren Leuchter. Dann legte er sich nieder - und erwachte nicht mehr, denn er war morgens eine Leiche.

Vor siebzig Jahren ging ein Hirte einmal, der in der Alpe angestellt war, im nahen Gestände herum, um ein verlaufenes Kalb zu suchen. Auf einmal sah er in den Stauden ein eisernes Turmkreuz vom Erdboden heraufsteigen. Es war jenes von der versunkenen Kirche. Er wollte es herausbringen und riß daher die Stauden ringsum fort, allein das Kreuz war zu fest angemacht. Nun kam der Hirte am folgenden Tage mit mehreren Leuten herbei um es auszugraben; aber da war es nicht mehr zu erblicken.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 191, S. 195 - 196.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.