Die Baumhexen
Es war in der Nußdorfer Gegend. Da ist einmal ein Mann spät in der Nacht vom Wirtshaus heimgegangen. Sein Weg führte ihn an einer riesengroßen alten Linde vorbei. Dort hörte er, erst wie aus weiter Ferne, den Ruf: "Hex in Hex! Hex in Hex!" Der Mann blieb stehen und horchte. Wiederum vernahm er den gleichen Ruf, aber diesmal lauter: "Hex in Hex!" Er schüttelte den Kopf und dachte unschlüssig: "Na, so was!" Und als es nun abermals, aber diesmal direkt vom Lindenbaum her, ertönte: "Hex in Hex!", da schrie er zurück, lachend und wie zu einem lustigen Streich aufgelegt, denn der Biergenuß hatte ihn übermütig gemacht: "Hex in Hex!"
Im gleichen Augenblick spürte er auch schon, wie er plötzlich hochgehoben und in die Lüfte entführt wurde. In herrlichem Flug ging es dahin und mitten hinein in die große Krone der Linde. Und schon saß er in dem Baum auf einem großen Ast. Er war umgeben von einer ganz bunten Gesellschaft von Hexen und Teufeln, die ihm nun aber gar nicht recht vertrauenerweckend vorkamen. Die Gestalten um ihn herum schienen eine Mordsgaudi mit ihm aufziehen zu wollen und umschwirrten ihn huschend links und rechts und zu seinen Füßen und über seinem Kopf. Dabei verging ihm rasch sein Übermut und er bekam es mehr und mehr mit der Angst zu tun. Inmitten dieser unruhigen Versammlung fühlte er sich alles andere als wohl. Als die Hexen und Teufel anfingen, ihn an seiner Kleidung zu zupfen und zu zerren, da klammerte er sich mit aller Kraft an einen aufwärts gewachsenen, festen Ast und sagte laut: "Gelobt sei Jesus Christus!"
Im Nu war die ganze Bande unter fürchterlichem Sausen und Toben
verschwunden. Der Mann aber traute sich nicht eher von seinem unbequemen
und unfreiwillig eingenommenen Hochsitz herunter, bis von der Nußdorfer
Kirche im Morgengrauen das Morgengebetläuten zu ihm herüber
klang.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 129