Das Totenlicht von Eßbaum
Es war vor vielen Jahren in den "Seelentagen". Ein Bauer, der auf dem Markt gewesen war und hinterher auch noch in einem Wirtshaus eingekehrt ist, wanderte heimwärts. Er hatte See und Dorf Soyen hinter sich zurückgelassen und stapfte eben über die Weide am Eßbaum. Es dunkelte und die Kirchen von Soyen, Rieden und Kirchreith läuteten zum Ave.
"Schon so spät", dachte der Bauer. "Was wird meine Alte wieder greinen!" Da kam ihm gerade ein anderer entgegen, geradewegs auf ihn zu. Ein Mann war es, schon ein alter, der in einen fußlangen schwarzen Mantel gehüllt war. Seltsamerweise trug er auf dem Kopf eine Kappe, wie sie sonst der Pfarrer in der Kirche aufhat.
Der Bauer wünschte im Vorbeigehen einen guten Abend und ein gutes Heimkommen. Der im schwarzen Mantel gab keine Antwort. Er ging einfach weiter, mitten auf die Weide hinaus. Dort hielt er an und entzündete ein Lichtlein, war dann aber nicht mehr zu sehen. Aber das Licht brannte und erleuchtete ein wenig die schwarze Novembernacht noch eine kleine Weile.
Der Bauer schritt flotter voran. Die Begegnung hatte ihn doch erschreckt.
Er war dann bald daheim und erzählte sein Erlebnis. "Ich weiß
keine Erklärung", schloß er seinen Bericht. "Aber
ich!", ließ sich die Großmutter vernehmen. Und dann erzählte
sie: "Im Dreißigjährigen Krieg trugen fremde Soldaten
die Pest in das Gebiet der Seen. Viele, viele holte sich der Schwarze
Tod. Aus Angst vor Ansteckung verwehrte man ihnen die Beerdigung auf dem
Kirchhof. Sie wurden am Eßbaum begraben. Bei ihrem Leichenbegräbnis
läutete keine Glocke, gab es keinen Grabgesang. Der vermummte Totengräber
warf sie in eine Grube und schaufelte Erde darauf. Nicht einmal der Pfarrer
trat an das Grab, um die Toten zu segnen. Er fürchtete sich ja auch
vor der Pest. Dafür kommt er, der längst selber tot ist, zur
Allerseelenzeit an ihre einsame Ruhestätte und entzündet dort
das Totenlicht. Das tut er so lange, bis endlich ein Kreuz die Pestgräber
segnet!" Im Jahre 1932 wurde auf der Begräbnisstätte der
Pesttoten von 1632 und 1634 ein drei Meter hohes Kreuz aufgerichtet. Am
8. Oktober zog aus diesem Anlaß von der Dorfkirche in Soyen aus
eine große Schar Beter hinauf zum Pestfriedhof auf dem Eßbaum.
Dort nahm Pfarrer Fäustle von Rieden die Kreuzweihe vor. 1943 wurde
das Kreuz erneuert. Das Lichtlein aber wurde nie mehr gesehen.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 193