Das Floribergweiberl
Wo heute der Tennisplatz neben dem Oberaudorfer Postamt ist, wuchsen früher große Kastanienbäume, die den Oberaudorfer Bürgern Schatten spendeten, wenn sie sich im dortigen Biergarten, dem "Lambacher Keller", trafen. Gerne genossen sie dort bei Bier, Brotzeit und Unterhaltung den Feierabend. Der gut gekühlte Gerstensaft kam aus den Banzen, die in den unterirdischen Gewölben des "Lambacher Kellers" daselbst lagerten. Bis ins zweite Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts bestand der Bierkeller. Von dort führte ein Weg nach Niederaudorf, etwa da, wo heute die Bahnhofsallee verläuft und am "Schopperhäusl" vorbei, der ehemaligen Reparaturwerkstätte für Innschiffe, gegenüber dem Sägewerk ein paar Minuten nördlich vom Bahnhof gelegen. Das Schopperhäusl war früher eine Reparaturwerkstätte für Innschiffe, und die Arbeiter, welche die Fugen zwischen den Schiffsplanken mit Moos wasserdicht "ausschoppten", das waren eben die Schopper. Das Schopperhäusl steht heute halb verfallen gegenüber dem Sägewerk Anker in Bahnhofsnähe.
Vom Lambacher Keller nach Süden führte der Weg zwischen dem Burgberg und dem Florianiberg hindurch, wo seit 1858 die Eisenbahn auf ihrem Damm rollt, nach Mühlbach. Das war damals ein sehr einsamer Fußweg, als es die Bahn noch nicht gab und am Weg noch keine Häuser standen. Kein Licht erhellte ihn dem Wanderer, der zu später Stunde hier seiner Behausung zustrebte.
Es mag an die zweihundert Jahre her sein, daß der Weber von Niederaudorf auf eben diesem Pfad spät abends von der Stöhr - so nannte man die Arbeit, die der Handwerker statt in seiner Werkstätte im Hause seines Auftraggebers ausführte - nach Hause ging. Als er ungefähr in der Gegend war, wo heute der Bahnhof sich befindet, stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein altes, kleines Weiblein vor ihm. Er wollte mit dem damals üblichen Gruß "Gelobt sei Jesus Christus!" an ihm vorübergehen, aber die Alte vertrat ihm den Weg. Mit aufgehobenen Händen bat sie den Weber inständigst, er möge doch mit ihr bis zur ersten Kreuzwegstation am Kalvarienberg, der auch Florianiberg heißt, zurückgehen. (Am Waldweg auf den Florianiberg stehen diese Kapellchen mit den Bildern vom Leidensweg Jesu heute noch, doch damals war die erste Kreuzwegstation dort, wo jetzt am Eisenbahndamm das Vorsignal für die einfahrenden Züge steht).
Der Weber, müde von der langen Arbeit dieses Tages und vom weiten Heimweg, weigerte sich entschieden, jetzt, zu so später Stunde, kurz vor Mitternacht, in der Finsternis noch einmal umzukehren und das Weiblein zum Florianiberg zu begleiten. Doch dieses vertrat ihm den Weg abermals und ließ mit Bitten und Betteln nicht nach und beschwor den Weber, ihr diesen großen Gefallen zu tun. Er könnte dadurch ihre arme Seele erlösen. Da ließ er sich erweichen und ging neben der Alten her, fast eine halbe Stunde lang. Auf dem ganzen Weg redete keines ein Wort. Stumm schritt der Weber, halb zornig und halb neugierig, neben dem Weiblein dahin. Als sie an der ersten Kreuzwegstation anlangten, sagte die Alte: "Gott vergelt's dir tausendmal! Jetzt hast du mich erlöst".
Da rauschte auf einmal etwas, als würde ein großes Bündel
Stroh einen Abhang hinunterkugeln. Das Weiblein war spurlos verschwunden.
Jetzt erst wurde es dem Weber richtig unheimlich und er fing an zu laufen
und er rannte bis nach Niederaudorf, ohne sich umzuschauen. Ganz erhitzt
und verängstigt kam er lange nach Mitternacht daheim an und legte
sich gleich ins Bett. Am anderen Tag aber konnte er nicht aufstehen. Er
war schwer krank. Drei Wochen siechte er dahin und starb schließlich
an den Folgen des ausgestandenen Schreckens.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 17