Die Toten streiten für den frommen Falkensteiner
Es war einmal im Inntal ein frommer, gottesfürchtiger Ritter. An keiner Kirche ritt er vorbei, ohne einzutreten und ein Gebet zu verrichten. Bei jedem Friedhof, an dem er vorüberkam, stieg er vom Roß, band es am Friedhofseingang fest und ging zu den Grabkreuzen hinein, um einige "Vater unser" für die Seelen der hier Begrabenen zu beten.
Einmal ritt er weit über Land und hatte bei Einbruch der Dunkelheit noch ein großes Stück Weges vor sich bis zu seiner Burg. Es ging schon auf Mitternacht zu, als er ein einsames Tal durchritt und an einem Kirchhof vorbeikam. Ein kalter Wind blies und er riß zeitweise die Wolken am Himmel auf, sodaß ein paar Sterne kurz herabblinzeln konnten. Manchmal huschte fahlgelbes Mondlicht über das Land. Dem Ritter machte das alles nichts aus. Wie gewohnt hielt er am Gottesacker sein Pferd an, hängte es am Gittertürchen des Friedhofs an und schritt hinein zu den Grabhügeln. Auf einem davon kniete er nieder und verrichtete sein Gebet für die Toten dort unten in der Erde.
Schon eine ganze Weile zuvor war eine Schar Räuber, von ihm unbemerkt, dem Ritter gefolgt. Jetzt sprangen die Burschen über die Friedhofsmauer und drangen auf den stillen Beter ein. Der Ritter riß sein Schwert aus der Scheide und setzte sich zur Wehr. Mit kräftigen Streichen hieb er um sich, aber der Räuber waren es zu viele, sodaß er bald deren Übermacht hätte erliegen müssen, wäre nicht etwas gänzlich Ungewöhnliches eingetreten: Siehe da! Es öffneten sich die Gräber und heraus stiegen die Toten mit klappernden Gebeinen und grinsenden Knochenschädeln. Geisterhaft mischten sie sich in den Kampf ein, um ihren Fürsprecher aus den Händen seiner Feinde zu erretten. Welch eisiger Schrecken die Räuber da überfiel, kann man sich leicht ausmalen. Von Grauen geschüttelt ließen sie von ihrem Opfer ab und flohen Hals über Kopf davon.
Nun stiegen die gespensterhaften Freunde des Ritters wieder stumm in
ihre Gräber. Die Grabhügel schlössen sich wieder und die
gewohnte heilige Friedhofsruhe lag über dem Kirchhof. Der Ritter
aber beendete sein unterbrochenes Gebet, stapfte dann zu seinem Pferd
und schwang sich in den Sattel und ritt frohgemut von dannen.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 101