Die grausame Gräfin von der Rachelburg
Bevor die Burg Falkenstein an seinem jetzigen Standort erbaut worden war, stand die Stammburg der Falkensteiner Grafen auf den senkrecht aufragenden, hohen Felswänden der Rachelwand, wenig nördlich vom Falkenstein. In einer armseligen Hütte am Fuße derselben, abseits der letzten Häuser von Flintsbach, gebar in grauer Vorzeit eine ledige Frau Drillinge. Nun ging einmal diese Frau mit ihren drei Kindern in den Bergwald, um Beeren und Pilze zu sammeln für ihre kärglichen Mahlzeiten. Dabei begegnete sie der Gräfin von Falkenstein. Sie bettelte die adlige Dame an um ein paar Kupferpfennige für sich und ihre immer hungrigen Kleinen. Aber die stolze Schloßherrin schalt die Arme eine liederliche Person, denn unmöglich könne sie von einem Mann drei Kinder auf einmal haben. Mit hochrotem, zornigem Gesicht stand die beschimpfte Frau da. "Ihr sollt noch viel mehr Kinder kriegen, ja, soviele, als das Jahr Monate hat!" schrie sie der Hartherzigen ins Gesicht und verschwand mit ihren Drillingen im Gebüsch.
Die Verwünschung ging in Erfüllung. Ein ganzes Dutzend Kinder gebar die Gräfin an einem einzigen Tag. Zu dieser Zeit war ihr Gemahl gerade am Tatzelwurm auf der Jagd. Das nützte die Gräfin aus, denn sie befahl einer Magd, alle zwölf Neugeborenen in einen tiefen Graben hinter dem Burgfelsen, der von einem reißenden Bach durchflossen wurde, zu werfen und sie zu ersäufen.
Die Dienstmagd mußte gehorchen, ob sie wollte oder nicht. Widerstrebend packte sie die Menschlein, nackt, wie sie waren, in zwei Deckelkörbe und machte sich damit auf den Weg, den grausamen Befehl auszuführen.
In der Nähe des Grabens angelangt, wurde sie von den Jagdhunden des heimkehrenden Ritters gestellt und verbellt. Der Graf kam auf das Gebell seiner Meute herbeigeritten und sah zu seinem Erstaunen die Kindsmagd mit den Körben. "Was hast du da drin ?" herrschte er sie an. Sie mußte die Deckel aufklappen, und weil der Graf sie mit dem Tode bedrohte, falls sie nicht sofort die ganze Wahrheit sagte, verriet sie, was ihr die Gräfin Schreckliches zu tun aufgetragen hatte. Wutentbrannt schickte er die Magd mit den zwölf kleinen Falkensteinern auf die Burg zurück, ließ sogleich die Gräfin herbringen und stieß sie eigenhändig in die Klamm hinab und damit in den Tod.
Die zwölf Buben aber wuchsen heran und wurden große Helden,
die Riesentaten vollbrachten. Die Felsschlucht an der Rachelwand heißt
Hundsgraben, weil Hunde es waren, die ihnen das Leben gerettet hatten.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 105