Die letzte Hinrichtung in Oberaudorf
Es muß am Anfang des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, vielleicht 1804, daß zum letzten Male ein Verbrecher vom Gefängnis im Oberaudorfer Burgtor den Armsünderweg zur Richtstätte hinausgehen mußte, um am Galgen sein Leben auszuhauchen. Bevor dieser Unglückliche den letzten Weg antrat, durfte er noch einen Wunsch äußern, der ihm kurz vor seinem unseligen Ende, wenn irgend möglich, erfüllt werden sollte. Der damalige Delinquent war ein passionierter Pfeifenraucher. Die Zeit, die er im Burgtor eingesperrt war, hatte er weder Knaster noch Feuer bekommen, um seine Pfeife in Brand zu setzen. So verlangte er jetzt nach Tabak und Feuer. Aber ein großes Packl Tabak müsse es sein, meinte er, denn er wolle nochmal ausgiebig qualmen, und in seinen Pfeifenkopf passe eine ganze Menge von diesem braunen Kraut. Das also hat er sich ausgebeten.
Der Verurteilte bekam, was er gewünscht hatte, und wirklich auch nicht wenig davon. Schon im Weggehen aus dem Gefängnis begann er zu rauchen. Er tat das genüßlich und mit wohl eingeteilten Zügen aus der Pfeife, denn schließlich sollte diese letzte Freude recht lang herhalten. Mehr, als was in den Pfeifenkloben hineinzustopfen war, hatte er allerdings nicht erhalten, sodaß er nicht hätte "nachlegen" können, wenn die Pfeife vor dem Ende seines Weges ausgeraucht gewesen wäre. Es muß ja wohl ein außerordentlich großer Pfeifenkopf gewesen sein, was der Todeskandidat da bis jetzt in der Hosentasche aufgehoben hatte, denn er glomm und qualmte auch noch, als er sein letztes Flehen um Gottes Gnade und Verzeihung in der Vierzehn-Nothelfer-Kapelle zum Himmel geschickt hatte. Und als er schließlich unterm Galgen stand, beruhigte er immer noch seine Nerven, indem er von Zeit zu Zeit ein blaues Wölkchen Tabakrauch aus Mund oder Nasenlöcher blies. Der Henker und die Gaffer, die zahlreich herbeigekommen waren, hatten nicht so viel Ruhe weg. Sie wurden schon ungeduldig, der eine, weil er sein schauerliches Tun endlich erledigt haben wollte, die anderen, weil sie den Kerl endlich baumeln sehen wollten. Aber nun war es doch so weit: der Mann unterm Galgen lehnte die jetzt erkaltete lange Pfeife an den Pfosten, an dem er sterben sollte. Sollte! - noch war es nicht ganz soweit!
Die unwillig durcheinandermurmelnde Schar der Zuschauer wurde mit einem Male still, als sie dessen gewahr worden waren, und sie reckten die Hälse, daß ihnen ja nicht entging, wann und wie der da oben auf dem Bretterpodest seinen Geist aufgeben mußte. Im Nu hatte ihm auch schon der Henker die Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen. Dann riß er mit einem Ruck das Brett, auf dem der Verurteilte stand, diesem unter den Füßen weg und der ausgemergelte Körper plumpste hinab. Aber im gleichen Augenblick riß der Galgenstrick, an dem er nun hätte baumeln sollen. Wie eine Katze so flink und behend schwang sich der noch immer Quicklebendige über das Balkengerüst und bekam auch noch seine Pfeife zu fassen, ehe er eiligst das Weite suchte, die verblüffte Zuschauermenge hinter sich lassend.
Nach altem Recht war damit auch die Verurteilung aufgehoben. Man hielt
diesen Vorgang für ein Gottesgericht, eine Gottesbegnadigung. Dennoch
suchte der so Gerettete möglichst rasch außer Landes zu kommen
und rannte auf Reisach zu, wo er die Überfahrt über den Inn
wußte. Der Fährmann sollte ihn über die Grenze nach Tirol
bringen. Als er am Innufer entlanglief, begegnete ihm ein Weiblein, das
nach allem Anschein es besonders eilig hatte. Schnaufend fragte die Alte
den ihr Entgegenkommenden: "Was meinst, komm' ich noch recht zur
Hinrichtung in Audorf?". Darauf bekam sie zur Antwort: "Nein!
Da bist schon zu spät dran. Aber ich wär' beinahe zurecht gekommen".
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 45