Die Sage von der alten Rachelburg bei Flintsbach
Eine mächtige Burg stand in grauer Vorzeit uneinnehmbar auf den senkrecht abfallenden Felsschroffen der Rachelwand, die im Sonnenlicht fast weiß aus den dunklen Bergwäldern hinter Flintsbach herausleuchteten. Von einer Seite nur führte ein schmaler, holperiger Weg zur Zugbrücke hinauf und zum schweren Eichentor in den dicken Burgmauern. Die Ritter, die dereinst dort oben hausten, führten ein wüstes Leben, betranken sich gar fürchterlich und grölten, daß man es in den Häusern der Bauern in Flintsbach nächtelang hörte. Sie vollbrachten Untaten, die jeden Christenmenschen mit Abscheu erfüllen mußten, wenn sie durch ihre rauhen Kehlen Kanne um Kanne Wein hatten rinnen lassen. Es erschien den Flintsbachern deshalb nur als eine gerechte Strafe Gottes, als die Burg in einer schwülen Nacht in Flammen aufging und die einstürzenden Mauern manchen der wüsten Gesellen erschlugen. Das aber war noch nicht genug der Rache, denn die Geister der Frevler mußten nun nächtens ruhelos um die Ruine spuken.
Diesen Spuk hat einmal ein Holzknecht erlebt. Kurz nach Mitternacht war er auf dem Heimweg von seinem entlegenen Arbeitsplatz hoch oben im Bergwald. Er mußte an der zerfallenen Rachelburg vobeigehen. Da bemerkte er zwischen den zerborstenen Mauern ein unheimliches Treiben. Dunkle Schatten von Geharnischten und Rössern huschten erst lautlos im Burghof herum, dann vermischte sich das Knallen von Peitschen mit dem lauten Wiehern von Pferden. Von deren Gestampfe erzitterte der Felsboden unter den Füßen des Holzknechts. Der getraute sich keinen Schritt mehr weiter zu gehen. Da vernahm er plötzlich eine tiefe Stimme: "Auf! Sattelt die Pferde!".
Nun kam aus den finsteren Winkeln, Löchern und Gängen der Burgruine wohl ein Dutzend weiterer Gestalten heraus in schwarzen eisernen Rüstungen. Jedem baumelte von der Hüfte ein langes Schwert. Mancher dieser Geisterritter trug einen Spieß in seiner Faust. Knappen schleppten Sattelzeug herbei.
Für einige Augenblicke riß die Wolkendecke am Himmel auf und der Mond schickte sein blasses Licht auf die Geisterschar. Da konnte der Holzknecht sehen, daß die Ritter alle keine Köpfe hatten. Aus dem Hals lief ihnen unaufhörlich Blut heraus. Der noch mehr Geängstigte duckte sich hinter einen Busch und wagte kaum mehr zu atmen. Wieder hörte er die tiefe Stimme von vorhin aus den eingefallenen Hallen durch den finsteren Wald schallen: "Auf in den Kampf! Auf in den Kampf!" Sofort schwangen sich die kopflosen Spießgesellen auf ihre Rösser und mit lautem Getrapp ging es hinaus aus der Burg.
Genau in diesem Augenblick schlug es vom Turm der Flintsbacher Kirche ein Uhr. Der laute Glockenschlag verkündete die erste Morgenstunde. Durch den Bergwald und wie von weither war noch einmal die Geisterstimme zu hören, diesmal noch tiefer und so dumpf, als käme sie aus dem Inneren des Berges oder aus einem Grab herauf. "Zu spät! Zu spät!" stöhnte sie jetzt. Danach war es mit einem Male still, totenstill.
Zitternd kroch der Holzknecht nach einer Weile aus seinem Versteck hervor
und eilte heim. Zu Hause war man nicht wenig verwundert über ihn,
denn sein dunkles Haar und sein Vollbart waren weiß geworden. War
er bisher ein fröhlicher, kräftiger Mann gewesen, so blieb er
von nun an wortkarg und hat nie mehr gelacht.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 95