Ein Räuber wird zum Büßer
Die Wimmer-Tochter von Oberaudorf, die einst Sennerin am Großen Berg war, erzählte einmal folgendes:
Ein Bauer im Inntal hatte einen einzigen Sohn, der aber schon von Jugend an ein Tunichtgut war. Er lachte nur über alle Warnungen der Seinen und trieb immer schlimmere Dinge, Boshaftigkeiten und Diebereien. Schließlich vermeinte er, nur das Räuberleben sei das ihm angemessene und könnte ihm Vergnügen machen und den nötigen Lebensunterhalt bieten. Darum schloß er sich einer Räuberbande an, die hin und wieder auch das Inntal heimsuchte. Die Räuber aber verlangten von dem Burschen ein Probestück, bevor sie ihn aufnehmen wollten. Da führte der Kerl die Spießgesellen vor sein Vaterhaus, und wie er früher schon Tiere erbarmungslos gequält und umgebracht hatte, so ermordete er jetzt vor ihren Augen seine eigenen Eltern und steckte das Heimathaus in Brand.
Diese Tat erstaunte die Räuber so sehr, daß sie sagten: "So was hat noch keiner zu tun sich unterstanden. Darum sollst du unser Hauptmann werden!". Und sie machten ihn tatsächlich zum Anführer ihres Haufens. Wenn nun die Bande einen Kaufmannswagen überfallen hatte, dann erschlug er jedesmal den gefangenen Handelsmann eigenhändig, und wenn es ein vornehmer Reisender war, dessen Kutsche die Banditen aufgelauert hatten, so war dieser sein Opfer. Bei jeder Mordtat verwendete er einen eigenen Kolben, also jedesmal einen neuen. Nach vollbrachter Tat steckte er diesen in die Erde vor dem Räuberlager, sodaß ein ganzer Zaun entstand und die Prügel ein ganzes Klafter Holz ausmachten.
Eines Tages begegnete dem Räuberhauptmann aus dem Inntal mitten im Wald ein neu geweihter Priester. Natürlich hielt er den Gottesmann sofort an und forderte von ihm all seine Barschaft, wenn ihm sein Leben lieb wäre. Aber der junge Geistliche sagte: "Ich kann dir nichts geben als den Segen, wenn dir damit gedient ist". Kaum zu glauben, aber es muß ein Strahl der Gnade in das Herz des Unmenschen gedrungen sein: Weil er von Kindheit auf daran gewöhnt war, ein "Ave Maria" zu beten, kniete er vor dem Gottesmann nieder und begann zu beten. Und er flehte den Priester an, ihm Verzeihung für seine Grausamkeiten bei Gott zu erbitten. Der aber legte ihm auf, erst ein Büßerleben zu führen. Dann werden einmal zum Zeichen dafür, daß Gott ihm seine Sünden vergebe, seine Mordknüppel wieder grünen, in der Erde Wurzeln schlagen und Knospen treiben.
So gab der Bauernsohn sein Mörder- und Räuberleben auf und
zog sich in die Einsamkeit zurück und büßte lange Jahre.
Eines nachts aber träumte dem Geistlichen, er solle in den Wald gehen,
wo er seinerzeit mit dem Räuber zusammengetroffen war, und solle
nach dem Holz sehen. Weit hatte er zu reisen, bis er zu dieser Stelle
kam. Dort waren mittlerweile die Knüppel zu Bäumen gewachsen,
und unter dem größten lag ein zum Skelett abgemagerter alter
Mann, ein büßender Greis, der mit brechender Stimme Gott lobte,
als er des Priesters ansichtig wurde. Es war der ehemalige Räuber,
der da in den letzten Zügen lag. Nun erhielt er noch rechtzeitig
die Lossprechung durch den Geistlichen, der inzwischen Pfarrherr geworden
war. Getröstet ging die Seele des Büßers nun in die bessere
Welt hinüber.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 57