Die Ebenacker-Dudl und das Schneiderlein

Die Dudl, das war einmal eine dicke Frauensperson, die immer einen großen Schlüsselbund umhängen hatte. Es war eine arme, unerlöste Seele, die wohl mit ihren Schlüsseln herumgeisternd ihre Sünden abbüßen mußte, bis sie einer erlösen würde. Vielleicht hatte sie zu Lebzeiten da und dort Schlüssel geklaut, um mit ihrer Hilfe in Häuser oder Kammern sich einzuschleichen und zu stehlen.

Einmal sollte ein Schneider aus Nußdorf nach Mühltal auf Stöhr gehen, um beim Mühltaler Bauern Röcke, Kittel und Hosen zu flicken oder zu schneidern. In der Nacht vorher wurde er wach und er meinte, es sei fünf Uhr morgens, also Zeit zum Aufstehen, um rechtzeitig zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen. Der Schneider hatte aber die Uhrzeiger verwechselt und es war in Wirklichkeit erst einige Minuten vor halb zwölf. So machte er sich nächtens auf den Weg. Auf dem Brandlsteg mußte er den Steinbruch überqueren, wo es zu den Ebenackern weiterging. Als er auf dem Brücklein war, stand plötzlich die Ebenacker-Dudl vor ihm und verwehrte ihm das Weitergehen. "Du kannst mich heut' erlösen! Du mußt es tun!" flehte sie ihn an. Und schon drückte sie ihm einen langen Haselnußstecken in die Hand und gab ihm die Weisung, diesen auf keinen Fall zum Zuschlagen herzunehmen und ihn ja nicht zu verlieren. Auch wenn ihm drei grausige Erscheinungen begegnen sollten, dürfte er nicht zuhauen. Sie könnten ihm nichts antun, wenn er den Stock nur fest in der Hand behielte.

Der Schneider aber wollte sich auf solche Abenteuer nicht einlassen und streckte ablehnend den Haselnussenen dem dicken Weib wieder entgegen. Er meinte, sie sollte nur ihren Stecken wieder nehmen. Doch die Dudl bat ihn wieder inständig um seine Hilfe, denn sonst müsse sie wieder hundert Jahre auf ihre Erlösung warten. Da war die Dudl auch schon verschwunden und der Schneider stand mit seinem Stecken in der Hand da.

Was zu tun blieb ihm jetzt schon übrig? Er nahm seinen Weg wieder unter die Füße. Er war noch nicht weit gekommen, da erschienen ihm nacheinander zwei scheußliche Gestalten. Obgleich sie auf ihn zutraten und ihn zu bedrängen versuchten, wehrte er sich nicht mit seinem Stecken. Die Unholden ließen ab von ihm und entfernten sich ins Gebüsch. Die dritte Erscheinung aber war weit fürchterlicher: Ein feuerspeiender Drachen stürzte mit weit aufgerissenem, zähnebewehrtem Rachen auf ihn zu. Er brüllte ohrenbetäubend und schnaubte Dampf aus seinen roten Nüstern. Da verlor der Schneider die Selbstbeherrschung und er schlug mit dem Haselnußstock wild auf das Untier ein.

Mit einem markerschütternden Schrei verschwand sogleich der Drachen. Aber nun stand die Dudl wieder vor dem Schneiderlein. Laut jammernd beklagte sie sich über seine Feigheit, die ihre Erlösung zunichte gemacht hätte. Wehklagend und heulend lief sie in den Nußdorfer Wald.

Dem Schneider war jetzt die Lust zum Arbeiten gründlich vergangen, denn er meinte, nach all dem Schrecklichen, das er erlebt hatte, ginge ihm heute nichts mehr von der Hand. Er kehrte um und begab sich auf den Heimweg. Beim Mittagläuten kam er zähneklappernd zu Hause in Nußdorf an.

Die Dudl aber hat man in der Nußdorfer Umgebung immer wieder gesehen. Wenn sie ein Dorf oder einen Bauernhof heimsuchte, erschien sie oft als umherwandelndes Lichtlein, mit dem Schlüsselbund klappernd. In dieser Gestalt jagte sie dann die spät vom Wirtshaus Heimgehenden ins Boxhorn. Wenn sie aber einem Nachtwächter mit seiner Laterne begegnete, huschte sie nur züngelnd und gaukelnd an ihm vorbei. Doch wenn jemand auf die Dudl schimpfte, dann wurde sie zur haushohen Flamme, die den Frevler zischend verjagte.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 131