Der Totenruf
In den Friedhöfen des Inn-Oberlandes standen auch in alten Zeiten häufig aus Eisen kunstvoll geschmiedete Grabkreuze. Auf einem solchen war ein Totengerippe mit Sense und Stundenglas dargestellt. Darunter war der Spruch zu lesen: "O Mensch, du mußt sterben! Wo, wie und wann, ich dir nicht sagen kann".
Diese Worte haben sich - wieder einmal - auf seltsame Weise bewahrheitet:
Es waren nämlich drei Holzknechte bei ihrer Arbeit, als sie jemand
kläglich rufen hörten, als brauche er schnell Hilfe. "Wir
müssen doch nachschauen, wer da so jämmerlich schreit,"
sagte einer von ihnen. Alle drei legten ihre Äxte weg und gingen
der Stimme entgegen. Bald konnten sie ganz deutlich verstehen, was sie
rief: "Die Stunde ist da, aber der Mensch ist nicht da!". Die
Männer gingen gerade unter einer Felswand vorbei. Von dort oben schien
die Stimme zu kommen. Da sauste auch schon ein Felsblock herunter und
erschlug einen der Holzknechte. Sogleich verstummte die Stimme, denn die
Stunde war da und jetzt war auch der Mensch da.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 81