Der Miltenberger Engelwirt
Vor ein paar hundert Jahren war im Gasthaus zum Engel ein Wirt, der mischte Wasser unter den Wein und setzte den gewässerten Trank Tag für Tag seinen Gästen vor. Wenn ihm aber manchmal doch das Gewissen schlug, suchte er es einzuschläfern mit dem Spruch: "E Schöpple Wein und e Schöpple Wasser gibt auch 'n Schoppen." So trieb es der Wirt viele Jahre lang. Dann starb er plötzlich, und am übernächsten Tag sollte sein Leichnam begraben werden.
Der Sarg befindet sich schon vor dem Hause auf den zwei Stühlen, und die Trauerleute stehen um die Totenlade. Da flüstern sie einander etwas zu, und schließlich gucken sie alle zum Dachfenster empor; denn dort streckt der Wirt den Kopf heraus und hat die Zipfelmütze auf, wie immer, wenn er zu Lebzeiten hinter der Theke stand. Eilig bringt man die Lade in den Friedhof, und vier Nachbarn senken sie ins Grab und werfen hastig Erde darüber. Jetzt, denkt man, werde sich der Geist wohl nimmer zeigen und Ruhe finden. Das war aber nicht so. Er polterte jede Nacht in der Dachkammer des Wirtshauses und murmelte fortwährend den Spruch, den er sich im Leben so oft vorgesagt hatte: "E Schöpple Wein und e Schöpple Wasser gibt auch 'n Schoppen!" Als die Gäste den Lärm vernahmen, übernachtete niemand mehr, und mit der Zeit kam auch keiner mehr in die Wirtsstube.
Da ließ der neue Wirt einen Geisterbanner rufen, der bannte den Geist in einen Krug, und ein beherzter Mann nahm den Krug und brachte ihn auf den Steinertberg, wo er ihn unter einen Felsen stellte. Seitdem war im "Engel" Ruhe.
Nun kam einmal ein Eichenbühler an jenem Felsen vorbei, sah zufällig das Gefäß, holte es hervor und zog, ohne sich etwas dabei zu denken, den Stöpsel heraus.
Hui, da schlüpfte der Geist mit großem Getöse aus dem
Krug und fuhr auf den Zitternden los, dem vor Schreck die Haare hochgingen.
Und der Geist forderte, dass er ihn augenblicklich ins Wirtshaus zum Engel
bringe, sonst würde es ihm schlimm ergehen. Der Eichenbühler
versprach es auch, nur solle der Geist erst wieder in den Krug steigen.
Der Geist tat's, und der Mann drückte den Pfropfen fest darauf. Hernach
trug er den Steinkrug zurück ins Gasthaus zum Engel, stellte ihn
in der Wirtsstube unter die Bank und ging nach einem Trunk seiner Wege.
Morgens, wie die Magd die Stube scheuert, sieht sie den Krug und ruft
den Wirt. Der holt den Knecht und verspricht ihm eine Summe Geld, wenn
er den Krug wieder auf den Steinertberg bringe und dort eingrabe. Und
er solle ja keinem Menschen etwas davon sagen. So wurde also der Geist
des Weinpanschers wieder auf den "Steinen" verbannt. Einige
überängstliche Leute meinen, dort gehe er immer noch um und
quäle und peinige die Wanderer. Das kann aber nicht sein; denn er
ist ja doch im Krug eingesperrt und dazu noch in der Erde drinnen.
Elfriede Arnold
Quelle: Spessart-Sagen,
Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 138f