Die Getreidekörner
Wer die Stadt Wertheim besucht, der geht nicht von dannen, ohne dass er zur Burg hinaufgestiegen wäre. Und wenn man zwischen den mehr oder weniger zerfallenen Mauern und den noch gut erhaltenen Türmen dahinwandelt, mag einem jener Bäckergeselle in den Sinn kommen, dem hier oben Absonderliches begegnete. Wie nämlich dieser Bäcker an einem hohen Feiertag zur Mittagsstunde, zwischen elf und zwölf Uhr, da droben umherging, sah er im Burghofe, dort, wo sich der alte Burgbrunnen befindet, drei gefüllte Kornsäcke stehen, die offen waren. Er wunderte sich, dass bei dem alten Gemäuer und noch dazu an einem Festtag die Säcke standen, trat näher und guckte hinein. Der eine Sack enthielt Spelzen, der andere goldgelben Weizen und der dritte war voll Roggen. Der Gesell verwunderte sich noch mehr, als ihn eine Stimme aufforderte, mit dem Getreide die Taschen zu füllen. Er blickte sich um, konnte aber keinen Menschen erspähen. Da ward es ihm unheimlich, doch nahm er schnell von jedem Sack einige Körner und steckte sie ein. Dann verließ er eilends die Burg und ging in die Stadt hinunter. Bald hatte er im Kreise lustiger Kameraden das seltsame Erlebnis vergessen. Als er jedoch am Abend die Sonntagskleider auszog, fielen dabei Körner heraus und auf den Stubenboden. Dem Gesell weiteten sich die Augen; denn die wenigen Körnlein gaben in der schwach erleuchteten Kammer einen merkwürdigen Glanz. Der Bäckerjunge griff erschrocken nach den gleißenden Körnchen. Jawohl, sie waren zu purem Golde geworden.
Tags darauf lief der Bäckerbursche wieder zur Ruine empor an den
Burgbrunnen. Da war kein Getreide mehr zu sehen. Die wundersamen Kornsäcke
sollen sich nur alle hundert Jahre einmal zeigen.
Quelle: Spessart-Sagen,
Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 205f