Die Scherenburg
Es sind schon viele hundert Jahre vergangen, seit auf der Scherenburg bei Gemünden ein mächtiges Rittergeschlecht hauste. Das war wegen seiner Güte von den Untertanen geliebt und wegen seines rechtlichen Sinnes weit und breit geachtet und geehrt.
Nun war die Nichte des damaligen Ritters, namens Berta, elternlos geworden, und der Ritter nahm sich des verwaisten Mädchens an, holte es auf seine Burg und sorgte für es wie für seine eigenen Kinder. Er selbst hatte zwei Söhne, die hießen Dietrich und Kunrad. Die Brüder lebten in schönster Eintracht und suchten einander Gutes zu erweisen, wann sie nur konnten. Allein das änderte sich, als Berta zur holdseligen Jungfrau heranwuchs; denn die Brüder begehrten beide die Hand der sittsamen, schönen Berta. Der alte Ritter war inzwischen gestorben. Jetzt begannen die Söhne einander zu hassen, weil in der Liebe zu Berta keiner dem anderen weichen wollte. Diese merkte wohl, wie die Dinge standen, und ihre Sorge, dass sich die zwei um ihretwillen bekämpfen und töten könnten, war nicht ohne Grund. Ihr waren die beiden Vettern gleich heb und teuer, und sie bat und flehte den jüngeren Bruder Kunrad an, zugunsten des älteren Bruders zu verzichten und die Burg zu verlassen.
Kunrad willigte nach längerem Widerstreben auch ein, nahm spät in der Nacht Abschied von Berta, führte das Ross aus dem Stalle und sprengte über die niedergelassene Zugbrücke in den nahen Wald, wo allmählich der Hufschlag seines Pferdes verhallte. Doch, wie erschrak Berta, als sie von ihrem Erker aus gewahrte, dass ein zweiter Ritter die Burg verließ, in dem ihr Auge beim hellen Scheine des Mondes Dietrich erkannte. Er hatte von dem nächtlichen Ausritt seines Bruders Kunde erhalten und hegte wohl den Verdacht, jener würde aus der Nachbarschaft Hilfe herbeiholen, um ihn zu überwältigen und dann als der Alleinherr der Burg die schöne Berta zu freien. Ritter Dietrich geriet in heftigen Zorn. Er galoppierte seinem Bruder nach, um ihn zum Kampfe herauszufordern auf Leben und Tod. In der Nähe der Saale holte Dietrich seinen Bruder ein. Der sah, wie Dietrich vor Zorn glühte und schon das Schwert zog. Da dachte er an Berta, die ihn flehentlich gebeten hatte, doch kein Bruderblut zu vergießen, und er sprengte auf seinem treuen Ross in den Fluss, in der Absicht, ans andere Ufer zu gelangen und zu entfliehen. Der zornige Bruder wollte ihm nachsetzen, allein Kunrad tauchte nicht mehr auf, die Wellen wurden sein nasses Grab.
Dietrich ritt nun siegesfroh heimwärts. Unterwegs aber sah er Rauchwolken in der Gegend seiner Burg aufsteigen. Da spornte er das Groß zu größter Eile an. Bald hatte er die Schlucht erreicht, die ihn von der Burg trennte. Jetzt konnte er deutlich erkennen, dass diese in Flammen stand. Hin bis zur Brücke zu reiten, die über die Schlucht führte, wäre für ihn ein großer Umweg gewesen. Und rasch entschlossen, suchte er in gewaltigem Anlauf mit einem Sprung über den Graben zu setzen. Aber das Wagnis misslang; der Sprung war zu kurz, und Ross und Reiter stürzten in die Tiefe und fanden den Tod.
Die Burg brannte bis auf die Mauern nieder, und auch Berta kam in den Flammen um. Sie war es selber, die das Feuer angelegt hatte, weil sie ahnte, dass der Bruderzwist einen schlimmen Ausgang nehmen und sie dann für ihr Leben unglücklich werden müsse. Denn einem Brudermörder durfte sie nicht die Hand zum Ehebunde reichen. Lieber wollte sie im Feuerbrand den Tod erleiden.
Das war das traurige Ende des mächtigen Geschlechtes, das einst auf der Scherenburg hauste. Doch scheint der Geist der letzten Sprossen keine Ruhe zu finden. In manchen Nächten nämlich verändert sich wundersamer-gespenstigerweise die alte, nun in Trümmern liegende Stammburg der Ritter von Scheren. Es erheben sich plötzlich wieder die zerfallenen Mauern. Auch der Turm, der heute zur Hälfte eingestürzt ist, wächst zu seiner früheren Höhe empor. Alles ersteht so, wie es einst war. Und das geschieht lautlos, wie von Geisterhand geschaffen.
Auf einmal aber hört man den Hufschlag von Rossen. Zwei Ritter fordern Einlass in die Burg. Die Zugbrücke knarrt herab, und die beiden Reiter sind im Schlosshof. Sie schwingen sich von ihren Pferden und setzen sich, anscheinend ermüdet von einem langen Ritt, an einen steinernen Tisch. Da kracht eine Türe in ihren Fugen, aus dem Schloss kommt eine wunderschöne Jungfrau an die Ritter heran, gekleidet in ein weißes, wallendes Gewand, der stolz erhobene Kopf umrahmt von langem Blondhaar.
Geschäftige Diener bringen Speisen und Wein. Das Mädchen und die beiden Ritter begrüßen sich herzlich. Wir erkennen in ihnen Berta, das holdselige Ritterfräulein, und ihre Vettern Dietrich und Kunrad. Berta lädt diese zum Mahle ein. Ein fröhliches Schmausen beginnt. Bald sind die nächtlichen Humpen Wein geleert. Nun umarmt der jüngere Ritter Kunrad seine holdselige Base. Da ändert sich mit einem Schlage das Bild, Dietrich springt in wildem Zorne auf und ruft: "Berta ist mir zu eigen und keinem anderen!" Und er zieht sein Schwert, um seinen Bruder niederzustechen. Doch Berta wirft sich zwischen die beiden, und Kunrad schwingt sich auf sein Ross und entflieht. Aber auch Dietrich besteigt in Eile sein Pferd, um seinen Bruder zu verfolgen. Bleich vor Angst sucht Berta den Zornigen zurückzuhalten. Doch vergeblich. . Die Jungfrau ringt verzweifelt die Hände.
Da - nun brennt das Schloss, fällt über dem Mädchen zusammen und begräbt es unter den Trümmern.
So schließt das nächtliche Schauspiel, das sich unheimlicherweise
von Zeit zu Zeit wiederholt.
Quelle: Spessart-Sagen,
Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 190ff