Die mitternächtliche Biene.
Ein junger Schneider hatte eine Braut, die in der Grünen Straße
diente, und die Herrschaft hatte ihm erlaubt, das Mädchen des Sonntagabends
ein Stündchen zu besuchen. Eines Tags war die Herrschaft nicht zu
Hause, und nun nahmen es die Liebenden mit der Zeit nicht so genau; aus
einer Stunde wurden zwei und drei, sie sprachen über ihre künftige
Einrichtung, denn die Hochzeit war vor der Thür, und die Zeit verlief,
ohne daß sie darauf achteten. Da springt das Mädchen mit einem
Male in die Höhe, sieht nach der Hausuhr und schreit: "Um Gotteswillen
Heinrich, du mußt eilen, daß du zu Hause kommst, der Meister
schließt sonst die Thür!" Vergebens wendet er ein, daß
es noch so gar spät nicht sei, und daß er sich für den
Nothfall den Hauptschlüssel habe geben lassen; sie besteht darauf,
er solle fortgehen, wird immer ängstlicher und dringender und macht
endlich den Versuch, ihn mit Gewalt zur Hausthür hinauszuschieben.
Da schlägt die Glocke eilf, und mit dem ersten Schlage sinkt das
Mädchen ohnmächtig zur Erde. Erschrocken springt ihr der Bräutigam
zu Hülfe und führt sie in die Stube; aber vergeblich sind alle
seine Bemühungen, sie ins Leben zurückzurufen, und mit Sehnsucht
wartet er darauf, daß die Herrschaft vom Kindtaufsschmause zurückkehren
möge, denn je länger er seine Braut ansieht, um so graulicher
wird ihm zu so später Stunde. Denn, obgleich ihre Wangen roth sind,
so ist doch kein Leben und Pulsschlag in dem Körper, der Mund ist
weit geöffnet, und die Augen sehen starr vor sich hin. Da unterbricht
mit einem Male ein Summen die tiefe Stille der Nacht; denn durch das offene
Fenster ist eine Biene geflogen, und der junge Mann muß alles Mögliche
aufbieten, um daß Thierchen nur von dem Gesicht der Geliebten abzuhalten.
Endlich ist er des Schlagens und Abwehrens satt und bedeckt Kopf und Gesicht
des Mädchens mit einem weißen Tuche. Da saus't das Thier ihm
und der Geliebten um den Kopf in immer engern und schnellern Kreisen,
und das Summen wird lauter, und ihm wird immer ängstlicher zu Sinn.
Da hört er in der Ferne, wie die Glocke Zwölf schlägt;
er macht unwillkührlich eine rasche Bewegung, wodurch das Tuch vom
Gesicht der Geliebten herunterfällt, und sieht mit Schrecken, wie
die Biene mit Windesschnelle in ihren Mund fliegt. In demselben Augenblicke
seufzt das Mädchen tief auf und schaut erstaunt umher, wie Einer,
der aus tiefem Schlaf erwacht und sich nicht sogleich zurecht finden kann,
und stößt einen lauten Schrei aus, als sie bemerkt, daß
der Geliebte noch immer anwesend ist. Der aber nahm eilig seinen Hut,
um niemals wieder zu kehren. Denn er wußte nun, woran er war.
Quelle: Friedrich Wagenfeld, Bremen's Volkssagen, Bremen 1845, Zweiter Band, Nr. 5