Die Gräfin Emma und der Krüppel
Die Gräfin Emma von Leßum war eine Frau von außerordentlicher Frömmigkeit. Seit dem Tode ihres Gemahls Lüdger lebte sie sehr eingezogen und fand ihre einzige Freude am Wohlthun. Besonders reich bedachte sie die Geistlichkeit und schenkte der Kirche in Bremen, als sie den Erzbischof Libentius predigen hörte, zwei Kreuze, eine Altar-Tafel und einen Kelch, alles von Gold und Edelsteinen verfertigt, zwanzig Mark löthigen Goldes an Werth. Aber ihre Freigebigkeit beschränkte sich nicht auf die Geistlichkeit.
Einst war der Herzog Benno von Sachsen in Leßum zum Besuch bei der Witwe seines verstorbenen Bruders Lüdger. Sie ritten, umgeben von einem stattlichen Gefolge, am frühen Morgen bei der Stadt Bremen vorüber, um die Güter der Gräfin, die unter ändern einen großen Theil des jetzigen Stadtgebiets umfaßten, in Augenschein zu nehmen. Da nahten sich, im Vertrauen auf die Milde der Gräfin, einige Abgeordnete der Bürgerschaft und klagten über den Mangel an Weideland für ihr Vieh. Die Gräfin hörte ihnen mit Theilnahme zu und versprach, ihrer Noth abzuhelfen. Sie wollte ihnen - sagte sie - an Wischen und Weiden geben, soviel ein Mann in einer Stunde umgehen könne.
Da wurde der Herzog besorgt, daß die Gräfin bei ihrer bekannten Herzensgüte zu weit gehen und zu viel von dem kostbaren Erbe verschenken möge, das ihm oder seinen Kindern zufiel nach ihrem Tode. "Ihr solltet lieber die Frist auf einen ganzen Tag ausdehnen", sagte er ärgerlich.
Die Gräfin aber überhörte den Vorwurf, der in seinen Wort lag und erwiederte sanft: "Der Herr hat mich reich gesegnet an irdischen Gütern; es mag Euer Wort gelten."
Diese Zustimmung der Gräfin kam ihm vollends unerwartet, und er sann darauf, wie die Sache rückgängig zu machen sei. Da kam ihm plötzlich ein listiger Gedanke, er verbarg seinen Ingrimm unter einer glatten Miene und nahte sich mit gleisnerischen Worten seiner Schwägerin: "Da Ihr Euch", sagte er, "in dieser Angelegenheit meinem Rathe so schnell gefügt habt, so überlaßt Ihr es mir auch wohl, die Sache sogleich ins Werk zu richten."
Emma willigte arglos in sein Begehren, und nun kam die Tücke des Herzogs zum Vorschein; denn er sprengte die Straße hinab bis zu einem Bettler, bei dem sie so eben vorbeigeritten waren, und dem die Gräfin ein reichliches Allmosen gespendet. Er hatte im Vorüberreiten recht wohl bemerkt, daß der Mann ein armer Krüppel war. Verwundert folgte ihm der ganze Zug.
"Soll ich also" - wandte er sich schadenfroh an die Gräfin - "dafür sorgen, daß Euer Befehl pünktlich vollstreckt werde, so will ich Euch auch den Mann zeigen, der sogleich seinen Weg antreten möge."
Da brachen die Bürger aus in lautes Wehklagen, daß durch des Herzogs arge List die Freigebigkeit ihrer Wohlthäterin so schnöde vereitelt sei. Emma aber stieg herunter von ihrem Rosse, legte ihre Hand wie segnend auf das Haupt des armen Krüppels und betete leise. Die Bürger standen verzweiflungsvoll daneben; denn sie kannten den Mann und wußten, daß er ohne fremde Hülfe sich nicht vom Platz bewegen könne. Des Morgens brachten ihn mitleidige Menschen an die Straße und des Abends mußten sie ihn wieder heimholen. Der Bettler selbst war über die Zumuthung der hohen Frau erstaunt, als sie ihm winkte, aufzubrechen, und sah zweifelnd zu ihr in die Höhe. "Versuch's doch nur," sagte die Gräfin, und der Krüppel setzte sich in Bewegung. Gehen korinte er nun freilich nicht, da der Gebrauch der Füße ihm gänzlich versagt war; er kroch also auf den Händen, und ein Diener der Gräfin folgte ihm, um alle hundert Schritt auf seiner Bahn einen Pfahl einzuschlagen. Im Anfange waren die Bürger traurig, und die Meisten gingen voller Mißmuth zu Hause; denn was sollten sie von einem Krüppel erwarten. Der aber kroch und kroch, immer gleichmäßig weiter, ohne Ruhe und Rast, und als die Bürger gegen Mittag wieder hinausgingen, wurden sie auf das Angenehmste überrascht; denn soweit das Auge reichte, erblickten sie die hellschimmernden Pfähle in einer langen, langen Reihe und im Hintergrunde in einem ungeheuren Bogen; so ging es fort und im Abendschein konnte man schon von der Stadt aus deutlich den Krüppel arbeiten sehen, wie er näher und näher kam. Als die Sonne sank, langte er bei der Stadt an, und es war eine Weide eingezäunt, viel umfangreicher, als die Bürger ursprünglich gehofft hatten und fast zu groß für ihren Bedarf. Dies war im Jahre 1032.
Auf diese Wiesen, die jetzige Bürgerweide, treiben noch heutiges Tags die bremer Bürger ihr Vieh gegen eine unbedeutende Einschreibegebühr.
Den Krüppel aber haben die Bremer zeitlebens in Ehren gehalten, und auch die dankbare Nachwelt hat seiner nicht vergessen. Sein Bildniß sieht man zwischen den Füßen der Rolandsäule in Stein ausgehauen.
Emma lebte noch vierzig Jahre nach dem Tode ihres Mannes, eine Stütze und Trost für die Armen und Nothleidenden. Sie wurde nach ihrem Tode im Dom unter einem viereckigen blauen Stein begraben.
Was den habsüchtigen Herzog und seine Familie anlangt, so wurde ihre Erwartung, nach Emma's Tode ihren ganzen Nachlaß zu erben, bitter getäuscht. Denn ihre Schätze an Silber, Gold und edlem Gestein hatte sie an milde Stiftungen vermacht, und die Grafschaft fiel an Kaiser Conrad, dessen Gemahlin Gissa auch nach Bremen kam, um die Güter in Augenschein zu nehmen. Und selbst als nach Verlauf mehrer Jahre des Herzogs Sohn, Dethmar, mit der Grafschaft belehnt wurde, sollte er sich des Genusses dieser Güter nicht lange erfreuen. Denn als der Kaiser Heinrich, in Begleitung des Erzbischofs Adalbert, nach Leßum zog, wurde er von einer Mordbande angefallen und verdankte die Erhaltung seines Lebens nur der äußersten Anstrengung des Erzbischofs und seiner Leute. Als die Sache näher untersucht wurde, sagte Dethmars eigener Knecht Arend, es sei sein Herr gewesen, der den Hinterhalt gelegt habe, und als der Graf seine Unschuld durch einen Zweikampf beweisen wollte, verlor er sein Leben.
Quelle: Friedrich Wagenfeld, Bremen's Volkssagen, Bremen 1845, Erster Band, Nr. 3