Das Mäusemädchen.
Ein Schiffer von der Unterweser, der mit seinem Fahrzeuge in Vegesack lag, machte sich eines Morgens in aller Frühe auf, um sich zu Fuße nach der Stadt zu begeben, wohin ihn seine Geschäfte riefen. Etwa auf halbem Wege wurde er von einer raschen jungen Dirne eingeholt, die einen großen Korb auf dem Kopfe trug, in welchem es hin- und herraschelte, so daß der Schiffer seine Neugier laut werden ließ.
"Ich habe einen Korb voll Mäuse," sagte des Mädchen. "Die trage ich auf unsers Nachbarn Feld. Sein Hund hat unsere Gänse todtgebissen, und er will den Schaden nicht ersetzen."
Das leuchtete dem Schiffer ein, er konnte sich aber nicht denken, wie es ihr gelungen sei, so viel Mäuse zusammenzubringen.
"Nichts leichter als das," lachte das Mädchen, "da ich die Thierchen selber mache. Das habe ich von meiner Großmutter. Ich mache sie fertig bis auf die Schwänzchen, welche die Alte daran setzt, das läßt sie sich einmal nicht nehmen."
"So außerordentlich geschickt, und doch so bescheiden!" dachte der Schiffer und betrachtete seine flinke Begleiterin mit ehrfurchtsvoller Scheu. "Die wird sicher noch mehr können. Aber wer möchte sich nur unterstehen, sie darum zu befragen?"
Allein das Mädchen schien seine Gedanken errathen zu haben und sagte mit schelmischem Gesicht: "Ich merke, daß Ihr an solchen Stücken ein Gefallen habt, so seht denn her."
Bei diesen Worten zog sie eine kleine abgeschälte Weidenruthe aus der Tasche, und bohrte dieselbe in einen alten, knorrigen Baum hinein, der zufällig am Wege stand. Alsdann strich sie mit den Fingern daran herunter, als wenn sie melkt, und zur Verwunderung des Schiffers sprang ein starker Strahl der schönsten Milch aus dem Stäbchen. Als solches eine Weile gedauert hatte, nahm das Mädchen die Ruthe wieder zu sich und strich mit der Hand über die Spalte im Stamm, worauf der Milchquell sogleich versiegte.
"Ihr glaubt," sagte das Mädchen, "das sei der Stamm eines Baumes gewesen; aber es war unsers Nachbarn Kuh. Hätte ich das Stäbchen noch länger stecken lassen, so wäre Blut gekommen, jene Kuh hätte die Milch verloren, und der Nachbar hätte auf Niemand anders als mich gerathen. So hab ich's noch vorläufig beim Alten gelassen."
Jetzt lief ein Fußweg queerfeldein, und das Mädchen nahm mit
freundlichem Grüßen ihren Abschied, um nach dem Acker des Nachbarn
zu gehen und ihm die Mäuslein ins Korn zu setzen.
Der Schiffer aber ging sinnend seiner Wege, und wenn später einmal
in seiner Heimath von der Geschicklichkeit und Klugheit dieses oder jenes
Mädchens die Rede war, so schüttelte er ungläubig den Kopf.
War er doch fest überzeugt, daß nichts über die Mädchen
von Bremen gehe.
Quelle: Friedrich Wagenfeld, Bremen's Volkssagen, Bremen 1845, Zweiter Band, Nr. 9