DER MEHLKASTEN DES DOMDECHANTEN

In den Jahren 1315 und 16 war eine außerordentliche Theurung in allen Landen, und viele Menschen mußten Hungers sterben. In Lievland war die Noth gränzenlos, und in Polen, der Kornkammer eines großen Theils des europäischen Nordens, war damals solcher Mangel, daß die Eltern ihre Kinder aßen; die Leichen wurden aus den Gräbern hervorgescharrt und die Diebe aus dem Galgen genommen und verzehrt. In Bremen kostete der Scheffel Rocken 24 alte Grote.

In diesen schweren Zeiten ließ Herr Boege, der Domdechant, Korn und Mehl unter die Armen vertheilen, auch täglich einen Scheffel Mehl verbacken, zum Besten der Bettler, welche die Thüren seines Hauses belagert hielten. Endlich machte ihm das Gesinde Vorstellungen über seine Verschwendung und deutete darauf hin, wie er selbst in Verlegenheit kommen wurde, wenn sein Vorrath erschöpft wäre.

Da gebot Herr Boege alles Korn zusammen zu fegen in den Kasten und nicht abzulassen vom Almosengeben; Gott der Herr würde Alles wieder ersetzen.

Und siehe da, die Diener kamen zurück und meldeten dem Dechanten, alle Winkel und Ecken seinen voller Korn. Da fing der fromme Herr, von dankbarer Rührung überwältigt, an zu weinen und gebot seinen Leuten, daß sie den Armen noch zweimal soviel geben sollen als vorhin.

Zu Bremen war noch Brot zu haben für Geld, in vielen andern Ländern aber nicht, und wenn Jemand einen Pfennig Werths Brot von eines Bäckers Fenster nahm, so wurde nicht so genau darauf gesehn.


Quelle: Friedrich Wagenfeld, Bremen's Volkssagen, Bremen 1845, Erster Band, Nr. 19