Der Nachtwächter und die Gans
Einem Nachtwächter begegnete auf einem Kreuzwege eine Gans, so groß
und schwer, wie er sie noch in seinem Leben nicht gesehen hatte. Das wird
einen herrlichen Sonntagsbraten geben, dachte er, und da sich das Thier
nicht greifen lassen wollte, so holte er aus mit seinem Stock und schlug
ihr ein Bein ab. Jetzt nahm er seine Beute unter den Arm und brachte sie
nach Hause zu seiner Frau. Die war sehr erfreut über den unverhofften
Fang, und setzte die verwundete Gans, die auch vor Kälte zitterte
und halb erfroren schien, einstweilen hinter den Ofen, der noch etwas
warm war, auf einen Stuhl, damit sie sich im Laufe der Nacht etwas erholen
sollte. Als der Wächter aber mit seiner Frau am folgenden Morgen
in die Stube trat, erschraken sie sehr, als sie hinterm Ofen eine wohlbekannte
vornehme Dame fanden, welche jammerte und wehklagte, daß sie vergangene
Nacht ein Bein gebrochen. Da ging der Nachtwächter in sich und schaffte
die Verwundete ohne Aufsehn nach ihrer Wohnung, und er hat es nachher
nie bereut, daß er den ganzen Vorfall verschwiegen und keiner Seele
erzählt hat. Denn die Dame wollte um Alles in der Welt nicht bekannt
sein.
Quelle: Friedrich Wagenfeld, Bremen's Volkssagen, Bremen 1845, Zweiter Band, Nr. 13