Das große Blutbad in Hamburg.
(1072.)
Um die Zeit, als
Hamburg von den heidnischen Wenden erobert war und unter ihrer Zwingherrschaft
litt, da hielt einer ihrer Fürsten auf der kaiserlichen Burg sein
Hoflager, der hieß Baruth. Er war ein Feind der Christen, aber seine
Frau haßte das Evangelium noch mehr, und verfolgte mit teuflischer
Bosheit und Grausamkeit das Christenthum; und sonderlich trieb sie ein
ruchloses Gespötte über die Jungfrau Maria, die reine Mutter
unsres Heilandes, von der sie nur in den lästerlichsten Ausdrücken
gesprochen.
Und zur gerechten Strafe für solche Frevel hat es sich begeben, daß
diese Wendische Thyrannin, nachdem sie zwei Jahre lang ihre nahe Entbindung
vergebens erwartet, eine abscheuliche Mißgeburt mit zwei Köpfen,
Eselsohren und Bärentatzen zur Welt gebracht hat, und während
der Geburt Todes verfahren ist. Das erschreckliche Kind aber hat zu Aller
Entsetzen zu reden begonnen, und gleichsam als Leichen-Sermon für
die Mutter geschrieen: "Meine Mutter ist todt, dem Teufel ist sie
übergeben, in der Hölle begraben, der ewigen Verdammniß
verfallen." Darnach ist der gräuliche Wechselbalg auch verschieden.
Und das ist gewesen am Tage der heiligen Weihenacht.
Und als der Wendenfürst Baruth dies wahrgenommen, ist er in unbändigen
Zorn wider die Christen entbrannt, vermeinend, daß sie solch Unheil
über sein Haus durch Zauberkunst hervorgebracht, und hat alsogleich
mit seinen Leuten die wehrlosen Christen meuchlings überfallen und
Alles, Männer und Weiber, Alte und Junge niedermetzeln, oder in so
grausamer Art, wie gar nicht zu sagen, zu Tode martern lassen. Und das
Blutbad, das er angerichtet, ist so furchtbar groß in und um Hamburg
gewesen, daß die Wenden mit ihren Pferden in dem Blute der Christen
gestrauchelt sind, und das Christenblut durch alle Gassen und Winkel in
Strömen geflossen ist, mit einziger Ausnahme eines kleinen engen
Weges in der Vorstadt, in der Gegend der Neuen Burg, da, wo nachmals die
St. Nicolai-Kirche ist gebaut worden, - selbiger Weg ist ohne Blut geblieben.
Wie nun die Christen also gemartert sind, siehe, da hat sich eine Stimme
vom Himmel vernehmen lassen, die sprach: "Leidet getrost und furchtet
Euch nicht vor der Heiden Tyrannei, denn Eure Namen sind geschrieben in
dem Buche des Lebens und die Krone des Paradieses wartet auf Euch."
Durch diese göttliche Stimme sind alsobald viele der heidnischen
Wenden in sich gegangen und haben sich zu Christum bekehret, und haben
mit den noch übrigen Christen die Märtyrerkrone erwählet,
denn der Wendenfürst und seine Kriegsleute ruhten nicht eher, als
bis der letzte Christ Gott preisend in sein Blut gesunken war.
Und als es nun Abend geworden und die heilige Weihenacht angebrochen war,
und tiefes Schweigen und Finsterniß das entsetzliche Blutbad und
die zerstörte Stadt voller verstümmelter Leichen umhüllte,
und die Heiden von ihrer Mordarbeit ruheten, da ist doch am Himmel ein
hellklarer Glanz erschienen und die Stimmen vieler Engel haben sich hören
lassen, wie damals auf dem Felde bei Bethlehem: "Ehre sei Gott in
der Höhe!"
Der kleine Weg aber, der blutlos geblieben war, hat nachmals, als die
Christen die Heiden wieder verjagt und Hamburg wieder neu erbauten, zum
Andenken an das Märtyrer-thum der Vorfahren den Namen "Blootloser
Weg" erhalten. Und wie das Nicolai-Kirchspiel entstand und Häuser
dahin kamen, blieb die Benennung "Blootlose Twiete". Darnach
wohnten viele Korbmacher dort, die sich einander die Nahrung wegnahmen,
so daß Keiner sein Brot genügend fand; die nannten drum ihr
Gäßlein "Die brotlose Twiete". Und lange Zeit hieß
sie so, denn die Nachkommen hatten die Geschichten und Sagen der Vorfahren
längst vergessen, und nach der Reformation gab man wenig auf Erinnerungen
aus der katholischen Zeit. So hieß sie "brotlose" oder
"Korbmacher-Twiete", bis E. H. Rath ein Einsehen that, und den
alten rechten Namen mit großen Buchstaben an die Ecken der Twiete
anschreiben ließ. Ao. 1842 aber ist sie abgebrannt und nicht wieder
aufgebaut, also für immer verschwunden. Drum wollen wir ihr Gedächtniß
und das Andenken der Geschichte, die ihr den Namen gab, auf unsere Nachkommen
zu bringen suchen.
Quelle: Otto Beneke, Hamburgische Geschichten
und Sagen, Hamburg 1886. Nr. 15