Die verwünschte Linde bei Harvestehude.
(Um 1350.)
Links an der Chaussee
vom Rothenbaum nach Eppendorf, wo jetzt viele neue Straßen angelegt
sind, und bereits manche schöne Häuser und Lustgärten prangen,
da war noch vor einigen Jahrzehnten nichts als ein zum St. Johannis-Klostergut
gehörige Viehweide. Auf derselben stand ein kleiner kugelrunder Lindenbaum,
der seit 500 Jahren nicht größer geworden, sondern an Dicke
des Stammes, der Aeste und Krone grade so geblieben ist, wie er damals
war, nur daß man der Rinde das hohe Alter des Baumes wohl ansehen
konnte. Der Baum aber war verwünscht, und zwar, der Sage nach, bei
folgender Gelegenheit.
Im Kloster Frauenthal
zu Harvestehude hatte ein junges schönes Mädchen aus angesehener
Familie zu Hamburg aus Liebesgram den Schleier genommen. Sie hatte sich
verlobt mit einem jungen Edelknappen der Umgegend, der war zu Heerfahrten
in die Welt gezogen, um sich zu versuchen, die güldenen Sporen zu
verdienen, mit Ehre und guter Beute dann zurückzukehren und sie auf
seine väterliche Burg heimzuführen als sein ehelich Gemahl.
Die Zeit aber war längst um gewesen und der Geliebte nicht wiedergekommen.
Darum wollte sie ihr Vater des Versprechens ledig achten und sie zwingen,
einen ändern Mann zu heirathen. Und da sie den nicht leiden konnte,
auch noch immer in treuer Liebe ihrem fernen vielleicht längst verstorbenen
Geliebten anhing, so wußte sie sich nicht anders zu helfen, als
daß sie ins Kloster ging.
Einige Zeit darnach
aber kehrte der junge Ritter heim, und da er erfuhr, was geschehen, faßte
er den Plan, seine vormalige Braut, es koste was es wolle, aus dem Kloster
zu entführen und in ferne Lande mit ihr zu flüchten. Er wußte
es auch anzustellen, daß sie Kundschaft von ihm empfing, und daß
er sie einige Male in stiller Nachtzeit im Klostergarten sprach. Da ist
er allemal durch die Alster geschwommen, über die Mauer geklettert
und hat unter den großen Eichen, die noch bei Harvestehude stehen,
sie erwartet. So sehr nun auch der Ritter bat, und so tief die arme Nonne
ihr Verhängniß beklagte, so blieb sie doch ihrem Gelübde
treu und verwarf festiglich sein Vorhaben, sie zu entfuhren. Und zuletzt
sagte sie ihm feierlich für dieses Leben Valett, da sie gewillt,
ihn fürder nicht wieder zu sehen; und vermahnte und tröstete
ihn auf den Himmel. Nach diesem schmerzlichen Abschiede ist der Ritter
sogleich aus dem Lande gezogen und geistlicher Ordensritter geworden,
hierorts aber gänzlich verschollen.
Die grünen Eichen
jedoch im stillen Klostergarten haben dazumal bei den nächtlichen
Unterredungen einen Verräther verborgen gehalten, und wider die arme
Nonne ist beim geistlichen Gericht eine schwere Anklage wegen unerlaubten
Liebeshandels und gebrochenen Gelübdes erhoben. Und da sie nicht
leugnen konnte, ihren vormaligen Verlobten zu mehreren Malen dort heimlich
gesprochen zu haben, sonst aber, da der Ritter fern war, keinen Beweis
für ihre Unschuld bringen konnte, so hielt man die schlimme Anschuldigung
für erwiesen und verurtheilte sie zum Tode und zum Begräbniß
auf freiem Felde in ungeweihter Erde.
Und ehe sie gerichtet
wurde, hat sie's erbeten, daß ihr Leib auf dem Klosterfelde, in
dem Hügel, darauf ein junger Lindenbaum, begraben werde, und hat
gesagt: "Ich verwünsche den Lindenbaum, daß er niemals
größer werde, als er jetzt ist, und das soll als ein Zeugniß
gelten für meine Unschuld, denn so gewißlich er hinfort nicht
mehr höher wachsen wird, so gewißlich sterbe ich, wie ich gelebt,
als ein reine und unschuldige Braut Christi."
Und deshalb hat die
neue Straße, welche diese denkwürdige Stätte am nächsten
berührt, den bedeutsamen schönen Namen "Innocentiastraße"
erhalten. Der Baum selbst, der nun innerhalb eines großen Gartens
zu liegen kam, hat wohl dessen modernen Anlagen weichen müssen.
Quelle: Otto Beneke, Hamburgische Geschichten
und Sagen, Hamburg 1886. Nr. 40