Vom Kinder-Bischof zu Hamburg.
(Nach 1305.)
Am St. Nicolas-Tage,
dem Hauptfeste der Hamburger Schuljugend (6. December), durfte dieselbe
nach altem Herkommen einen Bischof aus ihrer Mitte erwählen, welcher
die Hauptperson bei dem Feste war, und noch drei Wochen lang später
fast unglaublicher Ehren und Vorzüge sich erfreute. Natürlich
war es eine Sache des höchsten Verlangens, der brennendsten Sehnsucht,
bei den Schülern wie bei ihren Eltern, zu dieser mehr als nur närrischen
Würde gewählt zu werden; vermuthlich waren deswegen manche Intriguen,
und dadurch eben so viele Unruhen, Parteiungen und Familienzwiste zu Wege
gekommen, wie weiland vor einer Königswahl im Polenreiche; deshalb,
damit der guten Stadt durch verderbliche Spaltungen kein Schade geschehe,
schlössen die Ehrbaren des Rathes und die Ehrwürdigen des Dom-Capitels
am 7. December 1305 (nach einem heißen Wahlkampfe) eine Vereinbarung,
durch welche ganz ernsthaft und förmlich ein genaues Regulativ de
eligendo episcopo puerorum, über die Erwählungsweise eines Kinder-Bischofs
festgesetzt wird.
Nach demselben konnte
ein Schüler nur einmal in seinem Leben solcher Ehre theilhaftig werden;
wählbar aber war Jeder aus der ganzen Schuljugend, jung oder alt,
unterm Joch oder außerm Joch, Canonicus oder Nicht-Canonicus. Es
gab nämlich, wie uns diese merkwürdige Urkunde zeigt, eine Reihe
von Domschülern, welche man Scholaris Canonici, Kinder-Domherren,
nannte, vielleicht die Besten, die Seiectaner jeder Classe. Diesen aber
allein stand das Wahlrecht zu, welches sie nach der Anciennität ihrer
Aufnahme unter die Zahl der Kinder-Domherren ausübten. Wenn dennoch
Wahlstreitigkeiten ausbrachen, so legte sich das Capitel ins Mittel und
präsentirte einen Candidaten, der dann gewählt werden mußte.
Der also gekorene
Episcopus puerorum hatte für die Ehre eine gewisse Erkenntlichkeit
zu entrichten, ein schlichter Scholar l Talent (20 Schilling), ein Kinder-Domherr
6 Mark Pfennige. Den Erwählten durch Spottlieder oder Schmähgedichte,
Lateinische oder Deutsche, zu kränken, und Andere dieser Wahlgeschichte
wegen in solcher pasquillantischen Weise ehrenrührig anzugreifen,
war den Schülern bei schärfster Ahndung verboten: es muß
also vorher sehr stark in diesem Punkte gesündigt worden sein.
Der erwählte
Kinder-Bischof wurde dann am St. Nicolas-Tage mit großem Pomp, bischöflich
angethan, von priesterlich gekleideten Knaben und der ganzen bunten Schaar
der Mitschüler begleitet, in den Dom geführt, wo er auf dem
Altar einen Ehrenplatz einnahm, und also dem ordentlichen Gottesdienst
beiwohnte. Dann lag es ihm ob (vermuthlich in der großen Halle vor
der Domkirche), einen bischöflichen Sermon zu halten, Lateinisch
oder Deutsch, gewöhnlich eine in Versen oder Reimen verfaßte,
gewiß sehr ergötzliche Oration, zu deren Abfassung er kaum
eine Nacht Zeit gehabt hatte.
Der nun folgende
öffentliche Umzug der Schüler durch alle Straßen der Stadt
war der Glanzpunkt des Tages. Vor dem Kinder-Bischof trugen phantastisch
geschmückte Schüler verschiedene Fahnen und große mit
Kringeln und Kuchen aller Art behängte Stangen. Der jugendliche Bischof
saß im vollen der Wirklichkeit nachgebildeten Ornat zu Pferde, von
kleinen Diaconen begleitet. Es folgten Gesänge absingend die älteren
Scholaren in ihrer ernsthaften gewöhnlichen Schülertracht (in
grauen Röcken und schwarzen Kappen). Dann aber schwärmte und
lärmte lustig hinterdrein die ganze Schaar der jüngeren Schüler,
die heute nicht "sub jugo" waren, in vielfachster Verkleidung,
als Apostel und Heilige mit deren Attributen, als Engel, als Priester,
Mönche, Könige, Kurfürsten, Ritter, Rathsherren, Bürger,
Schneider und Schuster, als Bauern, Kriegsleute, auch als Narren, Heiden
und schwarze Mohren, ja sogar als Teufelchen. Sie allzumal, während
sie die Häuser besammelten und reichlich mit Lebensmitteln und Almosen
beschenkt wurden, trieben dabei alle nur ersinnliche Kurzweil und verübten
tausend Schalksstreiche und Possen, zur großen eigenen und aller
Zuschauer Ergötzung, welche in ungezählter Menge den Zug begleiteten
oder ihm aus den Fenstern zusahen. Eine große fröhliche Schmauserei
beschloß diesen Freudentag.
Bis zum 28. December
blieb der Kinder-Bischof im Besitze seiner Hoheit und Herrlichkeit. An
allen in diese Zeit fallenden Sonn- und Festtagen erschien er zur Messe
und Vesper im vollen Ornat, mit der Inful geschmückt, auf einem Ehrenplatz
des hohen Chors der Domkirche. Vermuthlich brauchte er auch während
dieser angenehmen Wochen gar nicht zu lernen. Ja, wollte ihm gar das Glück
so wohl, daß er innerhalb derselben seligen Todes verfuhr, so erwies
man seinem Leichnam die bischöflichen Ehren; er wurde bestattet mit
den Exequien und der ganzen Pracht eines wirklichen Bischofs.
Wenn aber der 28.
December kam, das Gedächtnißfest der von Herodes gemordeten
unschuldigen Kindlein, dann besuchte er Morgens zuletzt als Bischof die
Messe, nach deren Beendigung sodann er und alle Scholaren im Reventer
(Refectorium, Speisesaal) des Doms eine kurze summarische Collation gegen
mäßige Beisteuer empfingen, worauf die ganze Bubenschaar schleunigst
zu den Pferden und Fahnen stürzte, um im letzten lustigen Mummenschanz
den letzten lustigen Umzug durch die Stadt zu machen, nach dessen Beendigung
für dies Jahr der Spaß aus war.
Als schwache Nachbildungen
dieses Festes sind wohl die protestantischen Kindergrüne anzusehen.
Man denke an den seit einigen Jahren abgeschafften Umgang der Paßmann'schen
Armenschule, an das einst so allgemein beliebte Waisengrün; ein feierlicher
Umzug kam auch dabei vor, so wie Almosen-Sammeln und Gesang, auch viel
Ernsthaftigkeit: Ermüdung, Lehrer, Polizeidiener, - sogar auch eine
Art Kinder-Bischof: der jugendliche zwischen zwei Soldaten befangen einherschreitende
sogenannte Capitain, in dessen lange Rocktaschen mitleidige Hände
das Doppelmarkstück hinterrücks versenkten, worauf er zum Dank
sich tief verbeugend den üblichen Kratzfuß versuchte.
Quelle: Otto Beneke, Hamburgische Geschichten
und Sagen, Hamburg 1886. Nr. 36