DES RODENSTEINERS AUSZUG
Im Odenwalde oder nahe dabei stehen zwei Trümmerburgen, die heißen
der Rodenstein und der Schnellert, zwei Stunden voneinander entfernt.
Die Herren von Rodenstein waren ein mächtiges Rittergeschlecht. Einer
derselben war ein gewaltiger Kriegs und Jagdfreund, Kampf und Jagd war
sein Vergnügen, bis er auf einem Turnier zu Heidelberg auch die Minne
kennenlernte und ein schönes Weib gewann. Doch lange hielt er es
nicht aus im friedsamen Minneleben auf seiner Burg, eine nachbarliche
Fehde lockte ihn zu blutiger Teilnahme.
Vergebens und ahnungsvoll warnte sein Weib, bat und flehte, sie nicht
zu verlassen, da sie in Hoffnung und ihrer schweren Stunde nahe war. Er
zog von dannen, achtete ihres Flehens nicht - sie aber war so sehr erschüttert,
daß ihre Wehen zu früh kamen - sie genas eines toten Sohnes
und - starb. Der Ritter war, dem Feinde näher zu sein, auf seine
Burg Schnellert gezogen - dort erschien ihm im Nachtgraun der Geist seines
Weibes und sprach eine Verwünschung gegen ihn aus. Rodenstein! sprach
sie, du hast nicht meiner, nicht deiner geschont, der Krieg ging dir über
die Liebe, so sei fortan ein Bote des Krieges fort und fort bis an den
Jüngsten Tag!
Bald darauf begann der Kampf. Der Rodensteiner fiel und ward auf Burg Schnellert begraben. Ruhelos muß von Zeit zu Zeit sein Geist ausziehen und dem Lande ein Unheilsbote werden. Wenn ein Krieg auszubrechen droht, erhebt er sich schon ein halbes Jahr zuvor, begleitet von Troß und Hausgesinde, mit lautem Jagdlärm und Pferdegewieher und Hörner- und Trompetenblasen. Das haben viele Hunderte gehört, man kennt sogar im Dorfe Oberkainsbach einen Bauernhof, durch den er hindurchbraust mit seinem Zuge, dann durch Brensbach und Fränkisch Krumbach und endlich hinauf zum Rodenstein zieht. Dort weilt das Geisterheer bis zum nahenden Frieden, dann zieht es, doch minder lärmend, nach dem Schnellert zurück. Im vorigen Jahrhundert sind im Gräflich-Erbachischen Amte zu Reichelsheim gar viele Personen, die den Nachtspuk mit eigenen Ohren gehört hatten, amtlich verhört worden und haben ihre Aussagen zu Protokoll geben müssen. Viele sagen zwar, es sei des Lindenschmieds Geist, der so ruhelos ziehe und von dem am Rhein alte Lieder gehen, aber der Lindenschmied war ein Schnapphahn, den Kaspar von Freundsberg gefangennahm, und lange vor seinem Leben war der Rodensteiner zum Auszug und Kriegsherold bis zum jüngsten Tage verwünscht worden.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch,
Leipzig 1853