ALLGEMEINES
Von den alten deutschen Göttern hat sich die Gestalt des Wuotan oder Wôden in der pommerschen Volkssage am schärfsten erhalten. Vorzüglich tritt er, wie überall im Reiche, als wilder Jäger auf, aber nicht in farbloser Tradition, sondern in frischen lebendigen Sagen. Hier hetzt er als Todesgott die Seelen der ihm verfallenen Menschen, dort zeigt er sich als den grimmsten Feind der Riesen (Hünen), Zwerge und Meerjungfern. Bald verfolgt er die weiße Frau, bald jagt er Zauberer, Diebe und andere Verbrecher. In jener Gegend zieht er auf einem Wagen durch die Lüfte, in dieser hoch zu Roß an der Spitze eines zahllosen Gefolges, wieder in einer ändern als einsamer Reitersmann auf schneeweißem Schimmel oder auf feuerflammendem Rappen, begleitet von seinen schwarzen Hunden.
Ferner weiß der pommersche Volksmund zu berichten, wie der Gott zum wilden Jäger ward. Man kennt ihn als Wunderthäter und als mächtigen Beschützer seiner Freunde. Selbst als Erntegottheit ist er noch heutiges Tages bekannt, zwar nicht in der Sage, wohl aber im Brauch, was hier deshalb nur kurz in einer Anmerkung berührt werden kann.2
Was nun den Namen Wôden angeht, so hat sich derselbe in vielen Kreisen erhalten, natürlich nicht ohne gewisse dialektische Lautveränderungen. Das w der altsächsischen Urform ist hier und da in g übergegangen, aus ô ist au, aus d ein r und aus diesem r wiederum ein l geworden. Außerdem ist meistens das n fortgefallen, dafür aber häufig die Deminutiv-Endung ke (-chen) angefügt worden. Wir finden im ganzen folgende Formen: in Rügen und Nordvorpommern: Wôde, Waur, Waul, Gauden, Gauren, (siehe oben die Anmerkung); auf Usedom-Wollin: Waud; 3 im Kreise Demmin: Waurke, Wôdke, Gaur; Naugard: Wôd; Fürstentum: Wôtk; Neustettin: Wûid und Wôd.
Von gleichem Alter ist die Benennung Hackelberg (Håkelbârch), welche in vielen Dörfern der Kreise Grimmen und Demmin für den wilden Jäger allein bekannt ist. Das Wort ist entstellt aus Hakelberend und kennzeichnet Wôden als den Mantelträger, nach seinem großen, gewaltigen Mantel, dem Himmelszelt. Auch die Bezeichnung als Graf von Ebernburg im Kreise Randow mag alt sein und auf mythologischer Grundlage beruhen. Dagegen zeigen Namen wie: Duewel, Boeser, Beelzebub, Dråk, Alf, Rôdjäckter, welche sonst dem wilden Jäger beigelegt werden, die häufig beobachtete Erscheinung, daß die alten heidnischen Götter, sobald sie dem Volksgedächtnis zu entschwinden beginnen, teuflische Natur annehmen und schließlich zum Teufel selbst werden oder in die Klasse der niedern, elbischen Geister, der Kobolde, Drachen u. s. w., übergehen.
In geringerem Maße als die Erinnerung an Woden hat die pommersche Überlieferung das Andenken an seine Gemahlin Frîa bewahrt. Die spärlichen Reste, welche sich von dem Namen der Göttin erhalten haben, sind in Nr. 39 zusammengestellt. Einen trefflichen Friamythus bietet die Sage von der Mûmilîsel, welche trotz der scheinbar ganz süddeutschen Namensform echt pommerschen Charakters ist. In der Wåtermäunk, Wåtermäum, Püttmoen und in der Roggenmauer, Kornmoen erscheint Fria als Brunnen- und Erntegottheit, freilich schon in arger Entstellung, ist sie doch zum Schreckgespenst und zur Kinderscheuche herabgesunken. Es ist eben bei ihr derselbe Zersetzungsprozeß vor sich gegangen, wie bei dem Wôden.
Von sonstigen Göttern lebt in der Sage 4 nur noch die Todesgottheit fort, teils als personifizierter Tod, teils als verkörperte Krankheit. Das Nähere darüber ist aus den unten aufgeführten Sagen ersichtlich, nur die sprichwörtliche Redensart: »Dem Tode ein paar Schlurrtüffeln geben« (Kr. Regenwalde); »Dem Dôd he pår Schauh schenke« 5 mag hier ihre Stelle finden. Sie kennzeichnet den Gott, wie er von dem aus schwerer Krankheit Wiedergenesenen Opfer fordert und erhält, und ist deshalb für uns von höchstem Interesse. Im übrigen sind die Vorstellungen von der Personifikation des Todes und der Krankheiten noch immer ungemein verbreitet, und es dürfte verhältnismäßig wenig Landleute geben, die nicht fest daran glaubten, daß z.B. die Cholera oder irgend eine andere verheerende Seuche ein bewußtes dämonisches Wesen sei, welches je nach seinem Gutdünken in diesem Orte alle Bewohner tötet, während sie jenen gnädig verschont.
Die letzte Sage in diesem Kapitel ist ein Niederschlag des germanischen Mythus vom Weltuntergang (Ragnarök). Sonst sind jedoch die Niederschläge von Götter-Mythen, wie sie sich in den Sagen von bergentrückten Helden, weißen Frauen, Schlüsseljungfern u. s. w. erhalten haben, hier nicht berücksichtigt worden, sondern werden in einem besonderen Abschnitt behandelt werden.
Anmerkungen:
2 In sehr vielen Orten Pommerns wird aus der letzten Korngarbe eine menschliche Gestalt geflochten, der Alte genannt. Daß dieser Alte, welcher, mit Blumen bekränzt und mit Bändern geschmückt, in feierlichem Zuge vor das Herrenhaus getragen wird und dort einen Ehrenplatz erhält, nichts anderes ist als eine Opfergabe für Wöden und daß der Alte ein Beiname dieses Gottes ist, habe ich nachgewiesen in meinen »Deutsche Opfergebräuche bei Ackerbau und Viehzucht. Breslau. Wilhelm Köbner. 1884. S. 171 bis 174.« - In den Kreisen Grimmen und Demmin wird nach dem Ernteschmaus (Ärenklatsch) den einzelnen Erntearbeitern eine Gabe an Fleisch, Wurst, Brot, Korn etc. ins Haus geschickt. Man sagt dazu: »Das kriegt ihr auf Gauden Deil, auf Gauren Deil oder up't Gaur.« Dieser Brauch stimmt zu der von Kühn und Schwartz für einen großen Teil Norddeutschlands nachgewiesenen Sitte des Vergodendeel (= Frau (Frô) Coden Teil), und bedeutet somit jene merkwürdige Redensart auf hochdeutsch soviel als: »Ihr bekommt das auf Wuotans (Gaudens, Gaurens, Gôdens = Wôdens) Teil, auf Wuotan«. Vgl. zu dem Vergodendeel meine Opfergebräuche S. 166 fg. und die dort angeführten Belegstellen.
3 Auf Usedom und Wollin sagt man: »De Waud kümt«, wenn nicht abgesponnen ist. Vgl. Kühn und Schwartz, Nordd. Sagen und Gebr. S. 413, Nr. 173.
4 Im Volksbrauch und in den Meinungen der Landsleute finden sich z.B. noch manche Erinnerungen an den Donnergott Thuner, während die Sage ihn in der Gestalt Wödens hat aufgehen lassen (Nr. 29, Nr. 35 darin besonders bemerkenswert) oder ihn zum Teufel gemacht hat (s. das Kapitel »Der Teufel«).
Volkssagen aus Pommern und Rügen, Ulrich Jahn, Berlin 1889, Nr. 1