DER WODE IN RÜGEN
Vor langen Zeiten lebte im Sachsenlande ein großer Fürst, der viele Burgen und Schlösser, Dörfer und Forsten hatte. Er liebte am meisten von allen Dingen in der Welt die Jagd und lebte mehr in den wilden Wäldern als auf seinen Schlössern und war überhaupt eines jähen und wütigen Gemütes und ein rechter Zwingherr.
Einst hatte ein Hirtenknabe in seinem Walde einen jungen Baum abgeschält und sich aus der abgeschälten Rinde eine Schalmei gemacht. Diesem armen unschuldigen Buben hat der Unhold den Leib aufgeschnitten und das Ende des Gedärms um den Baum gebunden, und nun hat er den Knaben so lange um den Stamm treiben lassen, bis das Gedärm aus dem Leibe gewunden und der Knabe tot hingefallen war, und dazu hat er gerufen: »Das ist die Schalmei, worauf du blasen sollst; das hast du für dein Pfeifen.« -
Einen Bauern, der auf einen Hirsch schoß, welcher ihm das Korn abweidete, hat er ohne alle Barmherzigkeit lebendig auf den Hirsch festschmieden und das wilde Tier so mit ihm in den Wald laufen lassen. Da ist das geängstete Wild mit dem armen Manne so lange gelaufen und hat ihm Leib und Haupt und Schenkel an den Bäumen und Sträuchern so lange jämmerlich zerquetscht und zerrissen, bis zuerst der Bauer tot war, dann auch der Hirsch hinstürzte.
Für solche greuliche Thaten hat der ungeheure Mann endlich auch seinen verdienten Lohn bekommen. Er hat sich auf der Jagd mit seinem Pferde den Hals gebrochen, welches durchgegangen und so gewaltig gegen eine Buche gerannt ist, daß es den Augenblick tot hinfiel, dem Reiter aber an dem Baume das Gehirn in tausend Stücke zerstob. Und das ist nun seine Strafe nach dem Tode, daß er auch noch im Grabe keine Ruhe hat, sondern die ganze Nacht umherschweifen und wie ein wildes Ungeheuer jagen muß. Dies geschieht jede Nacht, Winter und Sommer, von Mitternacht bis eine Stunde vor Sonnenaufgang, und dann hören die Leute ihn oft: »Wod! Wod! Hoho! Hallo! Hallo!« schreien; sein gewöhnlicher Ruf ist aber: »Wod! Wod!« und davon wird er selbst an manchen Orten der Wode genannt.
Der Wode sieht fürchterlich aus und fürchterlich ist auch sein Aufzug und sein Gefolge. Sein Pferd ist ein schneeweißer Schimmel oder ein feuerflammiges Roß, aus dessen brausenden Nüstern Funken sprühen. Daraufsitzt er, ein langer hagerer Mann in eiserner Rüstung, Zorn und Grimm funkeln seine Augen, und Feuer fliegt aus seinem Angesicht; sein Leib ist vornüber gebeugt, weil es immer im hallenden, sausenden Galopp geht; seine Rechte schwingt eine lange Peitsche, mit welcher er knallt und sein Wild aufjagt oder auch das verfolgte schlägt. Wütende Hunde ohne Zahl umschwärmen ihn und machen ein fürchterliches Getose und Geheul; er aber ruft von Zeit zu Zeit drein:
»Wod! Wod! Hallo! Hallo!
Halt den Mittelweg! Halt den Mittelweg!«
Seine Fahrt geht meistens durch wilde Wälder und öde Heiden, in der Mitte der ordentlichen Straßen und Wege darf er nicht reiten. Trifft er zufällig auf einen Kreuzweg, so stürzt er mit Pferd und Mann und Maus fürchterlich Hals über Kopf und rafft sich weit jenseits erst wieder auf. Doch auch die, welche er jagt, dürfen diesem Kreuzwege nicht zu nahe kommen.
Und was für Wildbret jagt er? Unter den Tieren alles diebische und räuberische Gesindel, welches zur Nachtzeit auf Beute schleicht: Wölfe, Füchse, Luchse, Katzen, Marder, Iltisse, Ratten, Mäuse und von den Menschen: Mörder, Diebe, Räuber, Hexen und Hexenmeister und alles, was von dunklen und nächtlichen Künsten lebt. So muß dieser Bösewicht, der im Leben soviel Unheil anrichtete, es gewissermaßen im Tode wieder gut machen. Er hält, wie die Leute sagen, die Straße rein; denn wehe dem, welchen er bei nächtlicher Weile auf verbotenen Schleichwegen oder im Felde und Walde trifft und der nicht ein gutes Gewissen hat! Wie mancher muß wohl zittern, wenn er sein
»Hoho! Hallo!
Halt den Mittelweg! Halt den Mittelweg!«
hört. Denn gewöhnlich jagt er, was er vor seine Peitsche bekommt, so lange, bis es die Zunge aus dem Halse streckt und tot hinfällt.
Am strengsten ist der wilde Jäger gegen die Hexen und Hexenmeister. Diesen ist der Tod das Gewisseste, wenn er sie einmal in seiner Jagd hat, es sei denn, daß sie etwa eine Alfranke oder eine Hexenschlinge finden, wo sie durchschlüpfen mögen. Dann sind sie für das Mal frei.
Alfranke ist ein kleiner Strauch, der im Walde steht und im ersten Frühjahr grünt und sich gerne um andere Bäume schlingt und rankt und dabei oft eine Schlinge mit einer Öffnung macht, wo jemand hindurch schlüpfen kann. Ebenso wachsen einzelne Zweige von Bäumen oft so wundersam zusammen, daß sie ein rundes Loch, einer Schlinge gleich, bilden, häufig weit genug, daß ein Ochs hindurchschlüpfen könnte, wie viel leichter ein Mensch. Das nennt man eine Hexenschlinge oder einen Hexenschlupf; denn wann sie in der Not ein solches treffen und hindurchwischen, darf niemand sie anrühren.
Nach E. M. Arndt, Märchen und Jugend, erg. 2. Aufl. I. S. 336-339.
Quelle: Volkssagen aus Pommern und Rügen,
Ulrich Jahn, Berlin 1889, Nr. 2