DER WILDE JÄGER TRÄGT EINEN SCHÄFERKNECHT NACH ENGELLAND

Früher blieben die Schafe des Nachts draußen auf dem Felde, da der Weideplatz von Tag zu Tag gewechselt wurde und ein jedesmaliges Eintreiben in den Stall zu zeitraubend gewesen wäre. Man umgab die Herde am Abend mit Flocken (d. h. Hürden), und der Schäfer hielt in einem zweirädrigen Schlafkarren die Nachtwache.

So lag auch einmal ein Schäferknecht aus Klemzow, im Kreise Schiefelbein, in seinem Schlafhäuschen, als plötzlich der Hund laut anschlug. Er guckte aus dem Karren heraus und sah nun einen hochgewachsenen, starken Mann in roter Jacke mit großem Vollbart herankommen, begleitet von fünf schwarzen Hunden, denen die Funken aus dem Rachen sprühten. Der Rôdjäckte rauchte eine Pfeife, aber nicht wie andere Menschen, denn statt des Rauches blies er das helle Feuer aus dem Munde heraus.

Trotz seines abschreckenden Äußern trat er freundlich an den Wagen heran und bot dem Schäferknecht einen guten Abend. Dieser erwiderte den Gruß, bat aber zugleich den Rodjäckten, seine Hunde zurückzurufen, da dieselben sich mit dem Hirtenhund zu schaffen machen wollten. Der wilde Jäger willfahrte der Bitte, und die fünf Hunde gehorchten ihm auf das Wort. Sodann fragte er den Schäfer, ob er ihm einen Gefallen thun wolle. Sein Schade würde es nicht sein; denn er solle dafür eine große Summe Geldes zur Belohnung erhalten. Der Knecht erklärte sich mit allem einverstanden, vorausgesetzt, daß er es ausführen könne. »Nun«, antwortete der in der roten Jacke, »dann mache dich bereit, du sollst nämlich mit mir auf eine Nacht zum König von Engelland und mir dort ein Schloß aufschließen.«

»Nach Engelland?« rief der Knecht, »und auf eine Nacht? Nein, das geht nicht an.« - »Um das Fortkommen brauchst du dich nicht zu sorgen«, versetzte der wilde Jäger. - »Ja, aber die Schafe. Wenn mein Herr das merkt, jagt er mich sofort aus dem Dienst.« - »O, hast du nicht deinen Hund, und habe ich nicht deren fünf? Von den Schafen soll dir auch nicht ein Stück entwendet werden.« -

Jetzt endlich willigte der Bursche ein. Der Rôdjäckte stellte seine Hunde an den Ecken der Hürden auf, des Schäfers Hund mußte den Eingang bewachen. Sodann hieß er den Knecht sich ein Taschentuch um Augen und Ohren binden und ihm auf den Rücken hocken. Er wolle ihn tragen, aber es ginge ein wenig rascher wie die Menschen zu reisen pflegten, und darum wäre es besser, wenn er weder sehen noch hören könne.

Der Schäferknecht that, wie ihm befohlen war, und nun ging es wie ein Sturm nach Engelland, so rasch, daß dem Burschen fast der Atem ausblieb. Nach Verlauf weniger Stunden hielt der Rodjäckte vor einem großen Schlosse an. Der Knecht sprang zur Erde, band sich das Tuch ab und erhielt nun von dem wilden Jäger einen Schlüssel, mit dem er die Pforte öffnete. Darauf traten sie in verschiedene Stuben hinein.

In einer derselben stand ein Spind, dessen Schloß mit einem metallenen Kreuz versehen war. »Schiebe das Kreuz zurück«, sprach der wilde Jäger, »und schließ mir das Schloß auf, denn ich bin es nicht im stände.« Der Knecht that es und entfernte sich alsdann auf Wunsch des Rodjäckten aus der Stube. Nach einer Weile wurde er wieder hineingerufen und aufgefordert, das Schloß zu schließen. Dann gingen sie zu der Pforte zurück, und auch hier schloß der Schäfer wieder ab. Sodann band er sich das Tuch von neuem um Augen und Ohren, hockte auf den Rücken seines Begleiters und in derselben Weise, wie er nach Engelland getragen war, kehrte er zu seiner Herde zurück.

Der Rôdjäckte war über den mutigen Mann sehr erfreut und bedankte sich vielmals, steckte ihm zur Belohnung Mütze und Taschen voll Gold und verschwand. Doch zuvor hatte er seine fünf Hunde wieder zu sich gerufen und dem Schäfer befohlen, nichts von alledem zu erzählen, sondern das strengste Stillschweigen zu beobachten. Von der Herde fehlte auch nicht ein einziges Stück. -

Nun begann ein Herrenleben für den Knecht. War er früher wegen seiner Armut als Knicker verschrien, so spielte er jetzt den reichen Mann. An Strümpfe- und Handschuh-Stricken war kein Gedanke mehr, die wurden gekauft. Auch rauchte er fortan nie mehr Tabak, sondern nur noch Cigarren. Außerdem wurden die feinsten und teuersten Kleider und eine neue Uhr gekauft, und wo ein Tanz war, da fehlte der früher so arme Schäferknecht nie.

Das erregte natürlich allenthalben Aufsehen und Neid, vorzüglich aber bei seinem Brotherren und dessen Frau. Letzere wartete einen günstigen Augenblick ab, wo der Knecht den Schlüssel zu seinem Kasten zu Hause vergessen hatte, öffnete denselben heimlich und fand nun in der Beilade das viele Gold, welches der Bursche von dem wilden Jäger zum Geschenk erhalten hatte. Schnell rief sie ihren Mann herbei, und der beschloß, seinem Knechte die Hälfte des Schatzes zu stehlen. »Angeben kann er uns ja doch nicht«, dachte er, »denn auf unrechte Weise ist es ganz gewiß gewonnen, und er wird sich doch nicht selbst durch die Anzeige vor die Gerichte bringen.«

Gethan, wie gedacht! Der habgierige Mann raubte einen großen Teil des Geldes und verfuhr dabei mit solcher Hast, daß ein Goldstück unter das Zeug in die Hauptlade fiel. Als der Knecht nach Hause kam und seine Truhe öffnete, merkte er deshalb sogleich, daß er bestohlen sei. Aber, was war zu machen? Wenn er auch an gelegentlichen Sticheleien der Wirtin merkte, auf wen er seinen Verdacht zu wenden habe, so hatte er doch keinen hinreichenden Beweisgrund dafür anzubringen.

Wie er nun eines Abends mißmutig in seinem Karren lag und über die Sache nachdachte, erschien der Rôdjäckte wie damals mit seinen fünf Hunden. »Weißt du auch, wer dich bestohlen hat?« rief er, nachdem er seinen Freund herzlich begrüßt hatte.

»Nein«, antwortete dieser. - »Nun, dein Brotherr ist es gewesen. Weißt du aber auch, warum derselbe sich gestern das Bein gebrochen hat? - Ich bin es gewesen, der ihn zur Strafe für seine Schandthat von dem Mittelbalken der Scheune auf die Diele herabgestürzt hat. Laß darum jetzt die ganze Sache auf sich beruhen, denn der Schelm ist bestraft genug. Damit du jedoch keinen Schaden erleidest, so will ich dir hier noch dreimal soviel Geld geben, als du das erste Mal von mir empfangen hast. Bleibe aber nicht mehr Schäferknecht, sondern kaufe dir ein hübsches Gut; denn Geld hast du jetzt soviel, daß du als dein eigener freier Herr lustig und guter Dinge leben kannst.«

Sobald er das gesagt hatte, gab der wilde Jäger dem Knecht das versprochene Geld, bedankte sich dann noch einmal für seine Beihilfe bei der Fahrt nach Engelland und verschwand.


Mündlich aus Sydow, Kr. Schlawe.

Quelle: Volkssagen aus Pommern und Rügen, Ulrich Jahn, Berlin 1889, Nr. 35