LEBENSLICHT VERTAUSCHT

Ein Mann lag schwer krank darnieder, und der Arzt hatte ihn schon völlig aufgegeben. In seiner Todesangst ließ er eine alte Frau kommen und suchte bei ihr Rat und Hilfe. Dieselbe tröstete ihn auch mit der Kunde, daß er noch nicht alle Hoffnung aufzugeben brauche; gelänge es ihm nämlich, sein Lebenslicht umzutauschen, so würde er gesunder werden, wie je zuvor. Sonst wäre er freilich dem Tode verfallen.

Der Mann fragte verwundert, was es denn mit dem Lebenslicht für eine Bewandtnis habe, und hörte nun, daß jeder Mensch ein Licht besitze. Solange dieses brenne, lebe der Mensch, sobald es erlösche, sei er tot. Auch über den Ort, wo diese Lichter brennen, wußte das Weib Bescheid. Der kranke Mann solle, so schwer es ihm auch fiele, von seinem Lager aufstehen und in einer bestimmten Richtung immer geradeaus gehen, dann würde er endlich dahin gelangen. Sobald er dort angekommen sei, möge er sein Licht aufsuchen und es mit einem Kinderlicht vertauschen; so würde das Kind sterben, wenn das Lebenslicht des Kranken erloschen sei, er selbst aber so lange leben, als das Kind ursprünglich habe leben sollen.

Der Mann that, wie ihm geheißen war, erhob sich von seinem Lager und wanderte immer gerade aus. Anfangs ging es sehr schlecht, ja, einen Teil des Weges mußte er, auf allen Vieren kriechend, zurücklegen, aber endlich erreichte er dennoch den ersehnten Ort. Dort brannten viele, viele Lichter, und er hätte das seine wohl niemals herausgefunden, wenn nicht ein freundlicher, alter Mann dort gewesen wäre, der ihm sein Lebenslicht zeigte. Das brannte nur noch ganz schwach, aber dicht daneben stand ein großes, langes, hellbrennendes Kinderlicht. Schnell ergriff er dasselbe und setzte sodann die beiden Lichter um, und kaum hatte er das gethan, so war er auch wieder ganz gesund und konnte frisch und munter nach Hause gehen. Das Kind aber, dem er sein Lebenslicht genommen hatte, starb noch am andern Tage.


Mündlich aus Reckow, Kreis Lauenburg.

Quelle: Volkssagen aus Pommern und Rügen, Ulrich Jahn, Berlin 1889, Nr. 46