275. Der Bettler auf der Insel Oie.
Unfern der Mündung der Peene, ungefähr eine oder anderthalb
Meilen in die Ostsee hinein, liegt die kleine Insel Oie. Sie gehörte
früher zur Marien-Kirche in Greifswald; seit mehr als hundert Jahren
ist sie aber schon zum Kirchspiel Kröslin eingepfarrt. Die ganze
Insel wird von ungefähr dreißig Menschen bewohnt, die aus drei
Familien bestehen, und auch nur in drei Häusern wohnen.
Bis vor dreißig Jahren war noch niemals ein Bettler auf der Insel
gewesen. Da geschah es einmal in einem strengen Winter, als die See von
Peenemünde bis nach der Insel hin zugefroren war, daß ein Bettler
auf den Einfall kam, die Eisbahn zu benutzen und auf der kleinen Insel
zu betteln. Der alte Mann kam, ohne daß ihn Jemand bemerkt hatte,
auf der Insel an, und stellte sich sogleich in die offne Thür des
ersten Hauses, auf welches er traf. Allda fing er auch sofort nach Bettlerart
zuerst an, ein kurzes Gebet herzusagen, und dann ein frommes Lied zu singen.
Auf solche Weise hatten die Oier das Wort Gottes noch niemals gehört;
Alles, was in dem Hause war, stürzte heraus zu dem armen Manne, und
holte ihn in die warme Stube, wo er bewirthet und reichlich beschenkt
wurde. Dann führten sie ihn im Triumphe zum nächsten Hause,
wo er wiederum singen und beten mußte, und worauf er nun von Allen
zum dritten Hause geführt wurde, so daß hier die Insel, Groß
und Klein, Herrschaft und Gesinde, um ihn versammelt war. Die guten Leute
überschütteten ihn mit Kleidern und Lebensmitteln, daß
er nicht im Stande war, Alles fortzutragen. Auch Geld bekam er, dreifach
so viel, als er hatte erwarten können; die Dienstboten allein hatten
über drei Thaler für ihn aufgebracht. Als er endlich die Insel
verließ, waren die Leute ordentlich traurig, und er mußte
ihnen versprechen, daß er recht bald wiederkommen werde.
Pommersche Provinzial-Blätter, II. S. 43.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 275