222. Johann Wilde.
Vor vielen Jahren lebte in dem Dorfe Rodenkirchen auf Rügen ein
Bauer, Namens Johann Wilde. Der wollte gern reich werden, und fing das
auf folgende listige Weise an: Er ging um Mitternacht zu den neun Bergen,
nahm eine Branntweinflasche mit und legte sich nieder, als wenn er schwer
betrunken wäre. Wie nun die Zwerge aus den neun Bergen hervorkamen,
um auf der Oberwelt zu tanzen, da glaubten sie, daß er wirklich
betrunken sey, und nahmen sich nicht sonderlich vor ihm in Acht, so daß
es ihm glückte, einem von ihnen, ehe derselbe sich dessen versehen
konnte, seinen gläsernen Schuh von dem kleinen Fuße zu ziehen.
Mit dem lief er eilig zu Hause, wo er ihn sorgfältig verbarg. Die
andere Nacht aber ging er zu den neun Bergen zurück, und rief laut
hinein: Johann Wilde in Rodenkirchen hat einen schönen gläsernen
Schuh; wer kauft ihn? wer kauft ihn? Denn er wußte, daß der
Zwerg dann bald kommen würde, um seinen Schuh wieder einzulösen.
Der arme Zwerg mußte nun seinen Fuß so lange bloß tragen,
bis er seinen Schuh zurück hatte. Sobald er daher wieder auf die
Oberwelt kommen durfte, verkleidete er sich als ein reisender Kaufmann
und ging zu Johann Wilde. Dem suchte er den Schuh Anfangs für ein
Spottgeld abzukaufen; Johann Wilde pries aber seine Waare an, bis der
Kleine ihm zuletzt die Kunst anzauberte, daß er in jeder Furche,
die er pflügte, einen Ducaten finde. Dafür gab er den Schuh
zurück.
Nun fing der Bauer geschwinde an zu pflügen, und so wie er die erste
Scholle gebrochen hatte, sprang ein blanker Dukaten ihm aus der Erde entgegen,
und das ging immer so von neuem, so oft er eine neue Furche anfing. Daher
machte er denn auch bald ganz kleine Furchen, und er wendete den Pflug
so oft um, als er nur eben konnte. Dadurch wurde Johann Wilde in Kurzem
ein so reicher Mann, daß er selbst nicht wußte, wie reich
er war. Aber es war dies Alles sein Unglück, und er hatte keinen
Segen davon. Denn weil er immer des Geldes mehr haben wollte, so pflügte
er zuletzt Tag und Nacht und that nichts mehr als pflügen. Das konnten
nun zwar seine Pferde wohl aushalten, denn er kaufte sich deren eine große
Menge, damit sie immer frische Kräfte hätten, und desto mehr
Furchen pflügen könnten; aber er selbst wurde durch die viele
Mühe und Arbeit ganz krank und elend; und zuletzt fiel er hinter
dem Pfluge hin und war vor Entkräftung plötzlich gestorben.
Seine Frau und Kinder fanden nach seinem Tode einen ungeheuren Schatz
von Dukaten vor, davon haben sie sich große Güter gekauft,
und sind nachher reiche und vornehme Edelleute geworden.
E.M. Arndt, Märchen u. Jugenderinnerungen, I. S. 235-240.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 222