6. Die Longobarden in Rügen.
In uralten Zeiten war einmal eine große Theurung und Hungersnoth
in Norwegen. Da traten die starken Leute auf, die des mittleren Alters
waren, und wollten die Alten und die Jungen, als den schwächeren
Theil, tödten, damit sie nicht Alle Hungers stürben. Dasselbe
hat aber eine ehrbare Frau, Gamboir geheißen, abgerathen und gesagt,
man sollte lieber das alte und junge untüchtige Volk an einen Haufen,
und das starke Volk an einen anderen Haufen setzen, und das Loos darum
werfen, wer aus dem Lande ziehen sollte; welchen Theil das Loos träfe,
dem würden die Götter schon gute Wege zeigen. Solches gefiel
ihnen Allen wohl und sie warfen das Loos. Das traf die starken. Dieselben
mußten nun wegziehen, und kamen nach langem Streifen und Umherziehen
zuletzt auf das Land zu Rügen. Daraus vertrieben sie die Rüger
und setzten sich an deren Stelle fest im Lande. Und weil sie auf ihrer
langen Reise die Bärte hatten lang wachsen lassen, hießen sie
sich die Langbarte, welchen Namen sie auch behalten haben. Sie sollen
auch die Stadt Barth erbaut haben, welche in ihrem Wappen noch ein Haupt
mit einem langen Barte führt.
Diese Langbarte haben bei fünf Könige Zeiten auf der Insel Rügen
und dem festen Lande gegenüber gewohnt. Darauf sind ihrer aber wieder
zu viele geworden, und die meisten von ihnen sind gezogen, zuerst an die
Elbe, dann an die Donau, und zuletzt nach Italien hin, wo sie ein Land
eingenommen, das jetzt mit einem etwas verkehrten Namen von ihnen die
Lombardei heißet.
Die vertriebenen Rüger hatten sich nach Hinterpommern gezogen, wo
sie auch die Stadt Rügenwalde erbaut haben. Dort saßen sie
ruhig, bis der Mehrtheil der Langbarte das Land zu Rügen also geräumt
hatten. Da brachen sie auf, überfielen die zurückgebliebenen
Langbarte, und nahmen ihre alte Heimath wieder ein. Die Langbarte zerstreueten
sich überall im Lande umher, und wurden da von nun an Wandalen genannt.
Th. Kantzow, Pomerania. I. S. 24-26.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 6