118. Der Wettlauf um das Opfergeld.
Vor der Stadt Greifswald stand ehedem eine Capelle, so der heiligen Gertrud
geweihet war. Einstmals war das Fest der Heiligen gefeiert, und es waren
von den Gläubigen viele und reiche Gaben eingekommen. Diese lagen
noch auf dem Hochaltar ausgebreitet, wo sie der Priester, welcher bei
der Kapelle angestellt war, einsammeln sollte, um sie zu dem Gotteskasten
abzuliefern. Wie dieser Priester nun aber nach beendigtem Feste ganz allein
in der Kirche war, da faßte ihn der schnöde Geiz, und er trachtete,
die frommen Gaben sich anzueignen. Er nahm deshalb, weil er zugleich ein
frecher, übermüthiger Gesell war, das Bild der Heiligen von
dem Altare, auf welchem es hing, und stellte es an den Eingang der Capelle,
dem Hochaltare gegenüber. Dann sprach er zu dem Bilde: Nun wollen
wir in die Wette laufen, und wer von uns Beiden der Erste bei dem Altare
ist, dem sollen alle die Gaben zu eigen seyn. Nachdem er die Worte gesprochen,
fing er an zu laufen; aber auf einmal erhob sich auch das Bild und lief
neben ihm vorbei, und war früher wieder an seinem Platze auf dem
Altare, als der Priester nur bis mitten in die Capelle gekommen war. Den
geizigen Menschen erschreckte dies Wunder aber nicht; er wurde vielmehr
zornig, und nahm das Bild wieder von seinem Platze, und stellte es wieder
an den Eingang der Capelle und lief abermals mit ihm zur Wette nach den
Gaben. Doch das Bild war noch geschwinder auf seiner alten Stelle, denn
das erste Mal. Auch das konnte den schlechten Gesellen nicht bessern.
Er nahm das Bild zum dritten Male vom Altar, stellte es an die Thür
und forderte es mit höhnischen Worten auf, noch einmal mit ihm den
Wettlauf zu machen. Darauf lief er wieder, und diesmal blieb er der Sieger.
Denn das Bild der Heiligen erhob sich nicht von seiner Stelle, und in
seinen Augen sah man helle Thränen über die Bosheit der Menschen.
Der Priester nahm nun alle Opfer, die da lagen, und trug sie nach seinem
Hause.
Aber schon in der nächsten Nacht wurde er plötzlich krank, und
legte sich hin, und war in drei Tagen todt. Er wurde begraben draußen
auf dem Gertruden-Kirchhof, dicht bei der Capelle.
Wie nun die nächste Mitternacht gekommen war, da erschien auf einmal
der Teufel auf dem Kirchhofe. Der klopfte an das Grab des Priesters, und
rief ihm zu: Stehe auf, du Pfaff, und mache doch mit mir den Wettlauf!
Da hatte der Todte keine Ruhe mehr im Sarge, und er mußte aufstehen.
Und als er aus dem Grabe hervorstieg, da packte ihn der böse Feind
mit glühenden Krallen an, um ihn fortzuziehen in sein höllisches
Reich. In seiner großen Herzensangst versuchte der Geistliche zwar,
die Thür der Capelle zu erfassen, vermeinend, daß die Heilige
ihn schützen solle. Aber es half ihm nichts, der Teufel zerrte ihn
fort, an der Capelle vorbei, über die Kirchhofsmauer hinweg, und
entführte ihn unter schrecklichem Sturm und Unwetter.
Der Müller auf der benachbarten Windmühle hatte das angesehen.
Er machte am anderen Tage dem Rath die Anzeige, und wie man nun hinging,
so fand man die Spuren, wie der Unglückliche in die Thür der
Capelle und in die Mauer des Kirchhofs hineingegriffen hatte; die Finger
waren in dem harten Gestein und Holze deutlich abgedrückt. Auch die
Fußstapfen des Teufels sah man tief in die Erde getreten, und wie
das Gras ringsumher versengt war. Alle diese Spuren sind geblieben, und
die Stellen, wohin der Teufel getreten, sind niemals wieder mit Gras bewachsen,
bis nachher die ganze Kapelle mit dem Kirchhofe verschüttet ist.
Micrälius, Altes Pommerland, II. S. 407.
Freyberg, Pommersche Sagen, S. 32-35.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 118