117. Der Rechtsspruch zu Greifswald.
In dem Jahre 1451 hat sich zum Greifswalde ein sehr seltsamer
und erbärmlicher Fall begeben. Es lebte daselbst ein Knochenhauer,
der etliche kleine Kinder hatte. Darunter waren zwei Knaben, der eine
drei, der andere vier Jahre alt. Diese hatten oft gesehen, wie ihr Vater
das Vieh schlachtete, und spielten daher wohl zusammen, daß der
älteste zu dem jüngsten sagte: er solle sich hinsetzen, so wolle
er den Ochsen schlachten; welches das Kind dann gethan, und hat es der
älteste mit der Faust umgestoßen. Also hatten sie ihr Spiel
gehabt. Da hat sich's aber einmal zugetragen, daß Niemand zur Hand,
und die Kinder allein gewesen; und wie sie so spielten, hat der älteste
zu dem jüngeren gesagt: ei, das puffet nicht! Und ungefähr liegt
nicht weit davon ein Beil. Das holet er sich und sagt: Brüderchen,
das soll puffen! und schlägt das Kind mit dem Beil vor den Kopf,
daß es von Stund' an todt bleibt. Den Eltern war das ein großes
Herzeleid. Sie wurden aber noch bekümmerter, als der Rath das Kind
wiederum hat wollen tödten lassen, weil es Menschenblut vergossen.
Sie baten und fleheten bei dem Rath, und stellten vor, es sey ihnen Jammer
genug, daß sie das eine Kind verloren hätten, sollten sie nun
auch noch das andere verlieren, das könne ihr Herz nicht aushalten.
Darüber gerieth denn der Rath in große Sorge, weil er doch
auch der Gerechtigkeit wollte ihren Lauf lassen. Zuletzt aber beschloß
er zu versuchen, ob denn das Kind wohl die Gefahr verstände, die
es an dem Bruder geübt. Derohalben scherzten sie mit ihm, und sagten,
es solle sich setzen, man wolle ihm den Ochsen schlachten, wie es seinem
Brüderchen gethan. Da verstand das Kind kein Böses, und setzte
sich hin; darum ließen sie es am Leben.
Kantzow, Pomerania, II. S. 74. 75.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 117