156. Claus Störtebeck und Michel Gädeke.
Es sind schon über fünftehalb hundert Jahre vergangen, da hausete
lange Zeit auf der Ostsee eine grausame Bande von Seeräubern, welche
sich die Victualien- oder Vitalienbrüder nannten, weil sie nur von
Raub und Beute lebten, oder auch Liekendeeler, weil man sagt, daß
sie alle Beute zu gleichen Theilen unter sich vertheilt hätten. Die
Anführer dieser Bande waren Claus Störtebeck und Michael Gädeke.
Jener war aus der Stadt Barth in Pommern gebürtig. Der Letztere,
der von den Leuten jetzt noch Gät-Michel genannt wird, soll von der
Insel Rügen, oder wie Andere behaupten, aus dem Dorfe Michelsdorf
auf dem Darß herstammen.
Diese Räuber trieben ihr Gewerbe auf der ganzen Ostsee; sie hatten
eine Menge Niederlagen und geheime Schlupfwinkel, in die sie sich verkrochen,
wenn sie einmal mit zu großer Macht verfolgt wurden. So bewohnten
sie zu Zeiten die große Höhle unter dem Waschstein auf Rügen,
die damals noch Niemand kannte; auch hatten sie ein festes Schloß
auf dem Zingst, wo man am Prerower Strome noch jetzt die Trümmer
einer Burg sieht, die von den Bewohnern das alte Schloß genannt
werden. Dieses Schloß haben die Lübecker, die von den Räubern
am meisten zu leiden hatten, im Anfange des funfzehnten Jahrhunderts zerstört;
sie sollen auf der Darßer Seite des Prerow- Stromes gelandet seyn
und im Lager gestanden haben. Die Stelle heißt noch jetzt der Lübecker-Ort.
Die Schätze der Räuber sollen damals von den Lübeckern
nicht gefunden seyn. Sie sollen vielmehr noch unter den Trümmern
des alten Schlosses verborgen liegen, und man kann noch häufig des
Nachts, wenn Vollmond ist, fremde Schatzgräber sehen, die mit allerlei
Mitteln nach ihnen suchen.
Den Räubern selbst konnte man lange Zeit nicht ankommen; sie entkamen
allen Verfolgungen glücklich. Das sollen sie den Gebeinen eines heiligen
Märtyrers verdankt haben, die sie einmal aus einem Kloster an der
Spanischen Küste gestohlen hatten, und die sie immer mit sich führten.
Endlich aber, nachdem sie über dreißig Jahre ihr Unwesen getrieben,
gelang es den Hamburgern, die eine große Seemacht zusammengebracht
hatten, die ganze Bande nach einem überaus blutigen Seetreffen einzufangen.
Zuerst bekamen sie den Claus Störtebeck mit 711 Gesellen,
und darauf den Michel Gädeke mit noch 80. Die wurden allesammt
zu Hamburg geköpft. Der Hamburgische Bürgermeister Simon von
Uetrecht hatte ihnen das Todesurtheil gesprochen, und sie in ihren Prunkkleidern
zum Richtplatze führen lassen. Aus der Beute, die man bei dieser
Gelegenheit machte, ließen die Hamburger eine goldene Krone und
einen großen übergoldeten Becher verfertigen. Die Krone hat
lange den St. Nicolai-Thurm in Hamburg geziert; den Becher zeigt man allda
noch.
Altes und Neues Rügen, S. 54. 55.
Der Darß und der Zingst, von A.v. Wehrs, S. 43-46.
Grümbke, Darstellung der Insel Rügen, I. S. 45-48.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 156