14. Wineta.

An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom sieht man häufig bei stillem Wetter in der See die Trümmer einer alten, großen Stadt. Es hat dort die einst weltberühmte Stadt Wineta gelegen, die schon vor tausend und mehr Jahren wegen ihrer Laster und Wollust ein schreckliches Ende genommen hat. Diese Stadt ist größer gewesen, als irgend eine andere Stadt in Europa, selbst als die große und schöne Stadt Constantinopel, und es haben darin allerlei Völker gewohnt, Griechen, Slaven, Wenden, Sachsen und noch vielerlei andere Stämme. Die hatten allda jedes ihre besondere Religion; nur die Sachsen, welche Christen waren, durften ihr Christentum nicht öffentlich bekennen, denn nur die heidnischen Götzen genossen eine öffentliche Verehrung. Ungeachtet solcher Abgötterei waren die Bewohner Winetas aber ehrbar und züchtig von Sitten, und in Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde hatten sie ihres Gleichen nicht.

Die Einwohner trieben einen überaus großen Handel; ihre Läden waren angefüllt mit den seltensten und kostbarsten Waaren, und es kamen Jahr ein Jahr aus Schiffe und Kaufleute aus allen Gegenden und aus den entferntesten und entlegensten Enden der Welt dahin. Deshalb war denn auch in der Stadt ein über die Maßen großer Reichthum, und das seltsamste und lustigste Leben, das man sich nur denken kann. Die Bewohner Wineta's waren so reich, daß die Stadtthore aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus Silber gemacht waren; und das Silber war überhaupt so gemein in der Stadt, daß man es zu den gewöhnlichsten Dingen gebrauchte, und daß die Kinder auf den Straßen mit harten Thalern sollen gespielt haben. Solcher Reichthum und das abgöttische Wesen der Heiden brachten aber am Ende die schöne und große Stadt ins Verderben. Denn nachdem sie den höchsten Gipfel ihres Glanzes und ihres Reichthums erreicht hatte, geriethen ihre Einwohner in große bürgerliche Uneinigkeit. Jedes von den verschiedenen Völkern wollte vor dem anderen den Vorzug haben, worüber heftige Kämpfe entstanden. Zu diesen riefen die Einen die Schweden, und die Andern die Dänen zu Hülfe, die auf solchen Aufruf, um gute Beute zu machen, schleunig aufbrachen, und die mächtige Stadt Wineta bis auf den Grund zerstörten, und ihre Reichthümer mit sich nahmen. Dieses soll geschehen sein zu den Zeiten des großen Kaisers Karl.

Andere sagen, die Stadt sei nicht von den Feinden erobert und zerstört, sondern auf andere Weise untergegangen. Denn nachdem die Einwohner so überaus reich geworden waren, da verfielen sie in die Laster der größten Wollust und Ueppigkeit, also daß die Eltern aus reiner Wollust die Kinder mit Semmeln wischten. Dafür traf sie denn der gerechte Zorn Gottes und die üppige Stadt wurde urplötzlich von dem Ungestüm des Meeres zu Grunde gerichtet, und von den Wellen verschlungen. Darauf kamen die Schweden von Gothland her mit vielen Schiffen, und holten fort, was sie von den Reichthümern der Stadt aus dem Meere herausfischen konnten; sie bargen eine Unmasse von Gold, Silber, Erz und Zinn und von dem herrlichsten Marmor. Auch die eheren Stadtthore fanden sie ganz; die nahmen sie mit nach Wisbi auf Gothland, wohin sich auch von nun an der Handel Wineta's zog.

Die Stelle, wo die Stadt gestanden, kann man noch heutiges Tages sehen. Wenn man nämlich von Wolgast über die Peene in das Land zu Usedom ziehen will, und gegen das Dorf Damerow, zwei Meilen von Wolgast, gelangt, so erblickt man bei stiller See bis tief, wohl eine Viertelmeile in das Wasser hinein eine Menge großer Steine, marmorner Säulen und Fundamente. Das sind die Trümmer der versunkenen Stadt Wineta. Sie liegen in der Länge, von Morgen nach Abend. Die ehemaligen Straßen und Gassen sind mit kleinen Kieselsteinen ausgelegt; größere Steine zeigen an, wo die Ecken der Straßen gewesen, und die Fundamente der Häuser gestanden haben. Einige davon sind so groß und hoch, daß sie Ellenhoch aus dem Wasser hervorragen; allda haben die Tempel und Rathhäuser gestanden. Andere liegen noch ganz in der Ordnung, wie man Grundsteine zu Gebäuden zu legen pflegt, so daß noch neue Häuser haben erbaut werden sollen, als die Stadt vom Wasser verschlungen ist.

Wie weit die Stadt der Länge nach sich in das Meer hinein erstreckt hat, kann man nicht mehr sehen, weil der Grund abschüssig ist, das Steinpflaster daher je weiter, desto tiefer in das Meer hineingeht, auch zuletzt so übermooset und mit Sand bedeckt ist, daß man es bis zu seinem Ende hin nicht verfolgen kann. Die Breite der Stadt ist aber größer als die von Stralsund und Rostock, und ungefähr wie die von Lübeck.

In der versunkenen Stadt ist noch immer ein wundersames Leben. Wenn das Wasser ganz still ist, so sieht man oft unten im Grunde des Meeres in den Trümmern ganz wunderbare Bilder. Große, seltsame Gestalten wandeln dann in den Straßen auf und ab, in langen faltigen Kleidern. Oft sitzen sie auch in goldenen Wagen, oder auf großen schwarzen Pferden. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher; manchmal bewegen sie sich in langsamen Trauerzügen, und man sieht dann, wie sie einen Sarg zum Grabe geleiten.

Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unter den Wellen die Vesper läuten. Und am Ostermorgen, denn vom stillen Freitage bis zum Ostermorgen soll der Untergang von Wineta gedauert haben, kann man die ganze Stadt sehen, wie sie früher gewesen ist; sie steigt dann, als ein warnendes Schattenbild, zur Strafe für ihre Abgötterei und Ueppigkeit, mit allen ihren Häusern, Kirchen, Thoren, Brücken und Trümmern aus dem Wasser hervor, und man sieht sie deutlich über den Wellen. - Wenn es aber Nacht oder stürmisches Wetter ist, dann darf kein Mensch und kein Schiff sich den Trümmern der alten Stadt nahen. Ohne Gnade wird das Schiff an die Felsen geworfen, an denen es rettungslos zerschellt, und keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben erretten.

Von dem in der Nähe belegnen Dorfe Leddin führt noch jetzt ein alter Weg zu den Trümmern, den die Leute in Leddin von alten Zeiten her »den Landweg nach Wineta« nennen.

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Acten der Pom. Gesellsch. für Gesch. und Alterth- Kunde.

Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 14