Vom blutrothen Meßer und steinharten Brod.
Mündlich auf der List.
Es war einmal eine arme Wittwe, die hatte sechs unmündige Kinder,
und als einst im Frühling ein böses Fieber kam und erst die
Kinder und danach auch die Mutter niederwarf, da war es, als sollten sie
verhungern. In dieser schrecklichen Noth raffte die Mutter sich auf, schleppte
sich nach einer reichen Frau, die gerade gegenüber wohnte, und bat
um ein wenig Brod. Diese aber wies sie schnöde ab und entgegnete:
»Ich gäbe dir wohl was; doch mein Meßer ist so roth wie
Blut, und mein Brod so hart wie Stein.« Die unglückliche Mutter
entsetzte sich, wankte traurig aus der Thür und fiel wie todt auf
der Schwelle nieder. Bald aber erholte sie sich; denn ein altes Mütterchen
kam an einer Krücke herbeigehinkt, flößte ihr einige Tropfen
Wein ein, tunkte etwas Brod in Wein, reichte es der Wittwe und brachte
sie also ins Leben zurück. Hierauf fragte das alte Mütterchen:
»Was fehlt dir? was weinest du?« Jene erzählte ihr die
Geschichte, und nun hob das Mütterchen den krummen Zeigefinger gegen
die reiche Frau auf und murmelte: »Dein Meßer so roth wie
Blut! dein Brod so hart wie Stein!« Als nun aber die Wittwe ihrer
armen Würmlein gedachte, da weinte sie von neuem; das alte Mütterchen
jedoch tröstete sie und sagte: »Was todt ist, das ist wohl
versorgt; was noch lebt, das soll nicht sterben.« Und sie giengen
zusammen in die Höhle des Jammers, und fünf Kinder wurden wieder
lebendig, als das Mütterchen ihnen Wein einflößte, und
das sechste lag da und lächelte, denn dieß sechste - ja, das
war beim lieben Gott. - Um die Frühstückszeit gieng die reiche
Frau in die Speisekammer, um sich Brod zu schneiden; aber das Meßer
war so roth wie Blut, und das Brod so hart wie Stein. Sie nahm ein anderes
Meßer und ein anderes Brod; aber das Meßer war so roth wie
Blut, und das Brod so hart wie Stein. In höchster Angst rief sie
einen Diener herbei, und in dessen Hand war das Meßer so blank wie
Eis, und das Brod so weich wie Brod; doch als die Frau das Butterbrod
eßen wollte, da war es in ihrem Munde so hart wie Stein. Und alle
Speise, die sie von der Zeit an über die Lippen brachte, es mochte
Brod oder Fleisch oder Gemüse sein, war in ihrem Munde so hart wie
Stein; und als sie elendiglich verhungert war, da lächelte sie nicht
auf dem Todtenbette, denn sie war nicht bei Gott, sondern mußte
alle Nacht umgehen; und sie hatte nicht eher Ruhe im Grabe, als bis der
eine von ihren Erben der armen Wittwe so viel von der Erbschaft gab, daß
sie mit ihren Kindern zu leben hatte bis an ihren Tod.
Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover,
Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 2, S. 12 - 13.