Vom Gefangenen.
Mündlich in Ribbesbüttel.
Ein Gefangener sollte in ein ander Gefängnis gebracht werden, und
der Stockmeister begleitete ihn allein, weil er nicht dachte, daß
er davonlaufen werde. Und der Gefangene bat um die Erlaubnis, seinen Bart
sich abnehmen zu laßen; und der Stockmeister bewilligte es und gieng
mit ihm in die Stube eines Barbiers. Nachdem der Gefangene barbiert war,
entschloß sich der Stockmeister auch dazu und ließ sich seinen
Bart einseifen. Der Gefangene sah dieß für eine bequeme Gelegenheit
an, jetzt zu entwischen, und sprang zur Thür hinaus. Der Stockmeister
verfolgte ihn und lief mit seinem eingeseiften Barte und mit der vorgebundenen
Serviette hinter ihm her und rief: "Halt auf! halt auf!" Der
Barbier, welcher besorgt war, er werde um seinen wohlverdienten Lohn und
um seine Serviette kommen, setzte flugs hinter ihnen her und rief: "Halt
auf! halt auf!" Der Zug gieng vor dem Fenster einer Küche vorbei,
da eben der Koch einen gebratenen Hasen auf dem Spieße hatte; der
legte auch seinen Bratspieß nicht abseite, sondern verfolgte den
Flüchtling mit dem Bratspieß und rief: "Halt auf! halt
auf!" Eine Menge Hunde, welche nach diesem Braten begierig waren,
verfolgte den Koch. Dieses sah ein Küchenjunge, welcher in der Küche
stand und das Feuer schürte; der nahm einen Feuerbrand, um mit demselben
die Hunde zu verjagen, und lief mit dem Brande hinter den Hunden her und
rief: "Halt auf! halt auf!" Dieses sah des Jungen Mutter, welche
im Begriff war, Flachs um den Spinnrocken zu wickeln; die verfolgte ihren
Sohn mit dem Flachs und rief: "Halt auf! halt auf!" Dieses sah
ihr Mann, welcher Holz hackte; der verfolgte seine Frau mit der Axt und
rief: "Halt auf! halt auf!" Dieses sahen zwei Polizeidiener,
welche dachten, der Mann würde seiner Frau mit der Axt den Kopf entzweispalten;
die verfolgten ihn mit dem Säbel und riefen: "Halt auf! halt
auf!" Der Zug gieng vor dem Fenster eines Schneiders vorbei, der
eben jemandem ein kostbares Kleid anprobierte. "Erlauben sie mir,
daß ich 'mal zusehe, was die Leute draußen so gefährlich
laufen", sagte dieser zu dem Schneider; und der Schneider erlaubte
es und ließ ihn gehen. Er hoffte jedoch vergeblich auf seine Wiederkunft;
denn der Fremde hatte das neue Kleid mitgenommen, sein altes hingegen
zurückgelaßen. Draußen aber war die ganze Stadt auf den
Beinen, und alles rannte und lärmte und kreischte und heulte und
tobte und fluchte und pfiff und schrie wild durch einander. Der Junge
fiel mit dem Feuerbrande seiner Mutter in den Flachs, und sie verbrannte
bis auf die bloße Haut; die Polizei hieb wüthend um sich herum
und schonte weder Freunds noch Feinds: kurz, Feuer und Schwert wütheten
unter diesen Leuten, und es kam endlich so weit, daß keiner mehr
zum Thor hinaus- oder hereinsollte. Zuletzt mußten alle vor Gericht,
und ein jeder sprach sich frei und sagte: "Irren ist menschlich."
Quelle: Märchen
und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr.
13, S. 47 - 49.