Großmütterchen Immergrün.
Mündlich in Hildesheim.
Es war einmal eine kranke Mutter, die hatte Herzweh nach Erdbeeren und
schickte deshalb ihre beiden Kinder ins Holz, daß sie ihr welche
suchten. Als das Körbchen voll war, keins aber hatte eine gegeßen,
so lieb hatten sie die Mutter; da kam ein altes Mütterchen daher,
das war ganz grün angezogen und sprach zu ihnen: »Ich bin hungerig
und kann mich nicht mehr bücken, so alt bin ich; schenkt mir ein
paar Erdbeeren.« Und sie erbarmten sich der alten Frau und schütteten
ihr das Körbchen in den Schoß. Als sie hierauf forteilten,
um andere zu pflücken, rief das Mütterchen sie zurück,
nahm sie bei der Hand und sagte: »Nehmet die Erdbeeren nur wieder,
ich finde doch schon; und weil ihr ein so gutes Herz habt, schenke ich
dir eine weiße und dir eine blaue Blume. Nehmet sie wohl in Acht,
bringt ihnen alle Morgen frisches Waßer, und zanket nicht mit einander!«
Sie dankten und eilten nach Hause. Als die Mutter die erste Erdbeere an
die Lippen brachte, da war sie gesund, und das hatte Großmütterchen
Immergrün gethan; und als die Kinder die Geschichte erzählten,
da dankte sie der holden Frau und freute sich der Kinder, und so oft diese
die Blumen ansahen, die immer frisch und lieblich waren, gedachten sie
an das Wort: »Zanket nicht mit einander!« Eines Abends jedoch
entzweiten sie sich und giengen friedlos zu Bette; und als sie am Morgen
die Blumen tränken wollten, siehe! da waren diese kohlrabenschwarz.
Da erschraken sie, nahmen sie traurig in die Hand und weinten viele, viele
Thränen auf die Blumen; und siehe! die weiße wurde wieder weiß,
die blaue wieder blau. Seit dem Tage haben sie immer Frieden mit einander
gehalten, und die Mutter hat sie gesegnet im Leben und im Tode, und sind
also die Blumen ein großer Schatz für sie geworden, und haben
sie Großmütterchen Immergrün lieb gehabt bis an ihren
Tod.
Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover, Carl
und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 4, S. 17 - 18.