Die wilde Johanne.
Nach einem Aberglauben in Gravenhorst.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Johanne. Die war so wild wie Waßer und unbändig wie der Wind und konnte keinen Augenblick ruhig sitzen, sondern brauste immer unstät umher wie eine Hummel. Gab es draußen was zu sehen, husch! war sie dort; jagte ein Wagen vorbei, hui! sie dahinter, und fort gieng's, daß ihr die Locken um den Nacken sausten. Und wenn nun die Mutter kiff und sagte: "Sei doch nicht immer so ungeberdig, du wilder Junge;" dann weinte sie und sagte trotzig: "Ich bin aber kein Junge und will auch keiner werden!" Und damit sprang sie fort über Stock und Stein, über Gräben und Hecken, durch Dick und durch Dünn, und jagte raschgeflügelten Schmetterlingen nach oder leichtfüßigen Hasen. Hört aber, wie es ihr ergieng.
Eines Tags erschien ein prächtiger Regenbogen. "Ei, da regnet es Gold und Blumen!" rief sie und fauste hin, um zu sammeln. Der Regenbogen aber ist eine Perlenbrücke, auf der die heiligen Engel zur Erde hernieder- und wieder zum Himmel emporsteigen. Wer selig gestorben ist, wandelt mit ihnen; so lange man aber auf Erden lebt, verhüllt der liebe Gott die Brücke, wenn man ihr nahe kommt. Deshalb kann man sie nur aus der Ferne sehen. Als nun Johanne dicht dabei war und schon wieder umkehren wollte, weil sie nichts mehr sah, wirbelte eine Windsbraut daher. Die nahm sie in ihre Arme, tanzte mit ihr unter dem Regenbogen hinweg und lachte und lachte; denn nun war Johanne ein Junge und hieß Johann. Denn jedes Mädchen, das unter einem Regenbogen durchläuft, ist flugs ein Junge.
Darum müßt ihr Mädchen immer hübsch sittig sein
und nicht so wild umhersausen; sonst könnte es euch 'mal ebenso ergehen.
Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover,
Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 54, S. 165.