Die gläserne Kugel.
Mündlich in Seesen.
Es war einmal ein König, der hatte seine Gemahlin sehr lieb, und die Königin liebte ihn von ganzem Herzen wieder; sie hatten aber kein einziges Kind, und darüber waren sie traurig. Nun begab sich's eines Tages, daß der liebe Gott ihr Bitten erhörte und der Königin einen kleinen Sohn schenkte; die Kammerfrau aber, die eine böse Hexe war, bemalte und bewickelte ein Stück Holz wie ein Kind, legte es in die Wiege und brachte den Prinzen in eine Fischerhütte. Als der König hereinkam, um seine Gemahlin und seinen Sohn zu begrüßen, fand er das Stück Holz, schüttelte mit dem Kopfe und gieng traurig wieder fort; die Königin aber weinte und wäre fast gestorben vor Schreck. Nach einem Jahre bekam sie wieder einen kleinen Sohn, und dießmal legte die Kammerfrau ein Bund Schwefelhölzer in die Wiege, während sie auch diesen Prinzen in die Fischerhütte brachte. Der König wurde nicht nur traurig, sondern auch zornig, und die Königin rang lange mit dem Tode. Wieder nach einem Jahre genas sie eines dritten Sohnes, und als der König hereinkam und statt eines Kindes eine Bierflasche fand, welche die boshafte Kammerfrau in die Wiege geschoben hatte, da ergrimmte er und ließ die Königin durch einen Jäger ins Gefängnis abführen. Des freute sich die alte Hexe und hoffte, nun solle ihre Tochter Königin werden; das gelang ihr aber nicht, da der König trauriger war als seine Gemahlin, die sich ihrer Unschuld tröstete, so kümmerlich es ihr auch im Kerker gieng.
Unter der Zeit wuchsen die drei Prinzen in der Fischerhütte heran
und meinten, sie wären die Söhne des alten ehrlichen Fischers,
und als dieser starb, weinten sie, als wenn ihr rechter Vater gestorben
wäre, erbten dankbar sein Vermögen, das aus der ärmlichen
Hütte, aus Netzen und Angeln bestand, trieben sein Handwerk nach
wie vor und waren ehrlich und fleißig und deshalb heiter und guter
Dinge. Eines Tages, als die beiden ältesten Netze flickten und der
jüngste die Küche hatte, trat ein Greis in die Hütte, das
war ein Zwerg, und sagte: "Habt ihr nicht Lust, die arme Königin
zu erlösen?" und erzählte ihnen deren Leidwesen, wie der
König sie verstoßen habe und nun meine, sie sitze in einem
ordentlichen Gefängnis, wie aber die böse Kammerfrau sie mit
hartherzigen Kriegsleuten umgeben habe, die sie fortwährend peinigen
müßten. Das rührte ihr gutes Herz, und obgleich alle drei
hinwollten, so ließen sie doch dem ältesten den Vorrang. "Ich
gehe hin", sprach er, und der Greis gab ihm ein Pferd und eine gläserne
Kugel und sagte: "Setz dich aufs Ross und reite der Kugel nach; sieh
dich aber nicht um, was dir auch widerfahren möge." Der Prinz
versprach es, saß auf und folgte der Kugel, die in stetem Laufe
vor ihm hinrollte; der Zwerg aber war plötzlich verschwunden. Als
er eine Weile geritten war, kamen viele Leute hinter ihm her und schrieen:
"Wo willst du hin? Wo willst du hin?" Neugierig sah er sich
um und war eine steinerne Bildsäule; und das hatte die böse
Hexe gethan. - Am andern Tage kam der Greis wieder in die Fischerhütte
und sagte zu dem zweiten Königssohne: "Dein Bruder wird wohl
nicht wiederkommen; willst du die Königin erlösen?" Er
war sogleich willig dazu, und der Zwerg fuhr fort: "Setz dich aufs
Ross und reite dieser gläsernen Kugel nach; sieh dich aber nicht
um, sieh dich nicht nm, was dir auch widerfahren möge!" Der
Prinz versprach es, saß auf und folgte der Kugel, die in stetem
Laufe vor ihm hinrollte. Als er eine Weile geritten war, kam ein blanker
Reiter hinter ihm hergesprengt und rief: "Halt! ich sollte dir noch
was Wichtiges bestellen!" Neugierig sah er sich um und war eine steinerne
Bildsäule; und das hatte die böse Hexe gethan. - Am andern Tage
kam der Greis wieder in die Fischerhütte und sagte zum jüngsten
Königssohne: "Deine Brüder werden wohl nicht wiederkommen;
willst du die Königin erlösen?" Er war sogleich willig
dazu, und der Zwerg fuhr fort: "Setz dich aufs Ross und reite dieser
gläsernen Kugel nach; sieh dich aber nicht um, sieh dich ja nicht
um, was dir auch widerfahren möge!" Der Prinz versprach es,
saß auf und folgte der Kugel, die in stetem Laufe vor ihm hinrollte.
Als er eine Weile geritten war, kamen viele Leute hinter ihm her und riefen
dieß und das; er sah sich nicht um. Jetzt hörte er's hinter
sich raßeln wie von geharnischten Rittern, und allerlei verschiedene
Stimmen spotteten und höhnten ihn; er sah sich nicht um, und die
Kugel rollte immer vor ihm auf. Zum drittenmal ward es laut hinter ihm
und ein wahrer Höllenlärm; er sah sich nicht um, und die Kugel
rollte immer vor ihm auf und rollte immer geschwinder und geschwinder.
Plötzlich ward es still hinter ihm wie im Grabe, und plötzlich
blieb die Kugel liegen, und er hielt am Thor eines wolkenhohen Thurmes.
Und siehe! die Kugel zerplatzte, und aus ihr sprang der Zwerg. Freundlich
gieng dieser auf den Königssohn zu, gab ihm einen Zauberstab und
sagte: "Wo du Lebendiges mit diesem Stabe berührst, das schläft
sofort ein; kein Thor aber und keine Kette giebt es, die nicht aufsprängen,
so du das Stäbchen daran hältst." Als der Königssohn
es an das große Gitterthor hielt, sprang es in der That krachend
auf; ebenso öffnete es ihm die Thüren zu elf Zimmern, in welchen
er nichts Lebendiges antraf. Jetzt hielt er den Stab an eine neue Thür;
sie sprang auf, und er befand sich in einem großen Saale, in deren
Mitte ein ganz kleines Haus stand. Bewacht wurde das Haus von vielen hundert
Kriegsleuten, welche von der Hexe hieher gestellt waren; sie drangen ingrimmig
auf ihn ein und wollten ihn aufspießen, da berührte er flink
ihre Speere mit seinem Zauberstabe, und alle die gewaltigen Kriegsleute
standen sogleich machtlos da wie nickende Kornähren und schliefen,
und ein Kind hätte sie köpfen können. Nun gieng er in das
Haus, und obgleich er nicht wußte, daß die bleiche Königin
seine Mutter sei, fühlte er es doch beinahe, besonders als sie ihr
Haupt weinend an seine Brust lehnte und sagte: "Ich danke dir; du
hast mich von großem Leid erlöst!" Eilig giengen sie durch
die Reihen der schlafenden Soldaten und durch die übrigen Zimmer
und trafen vor dem Thore den hülfreichen Zwerg an, der alles so wohl
gemacht hatte. Als sie ihm nun danken wollten, besonders die Königin,
antwortete er: "Laßt das sein; ich selber habe meine Freude
daran." Hierauf wandte er sich zu dem Prinzen und sagte: "Du
hast ein Werk vollführen helfen, das ich aus Liebe zur Königin
und aus Haß gegen die böse Hexe, meine alte Feindin, jahrelang
vorbereitet habe; dafür wünsche dir, was du willst, es soll
dir werden." "So laß meine Brüder wiederkommen!"
sagte der Prinz, und sie waren da. "Wünschest du dir weiter
nichts?" fragte der Greis. "Ich danke", versetzte der Königssohn.
"So will ich ein übriges thun", murmelte der Zwerg. Und
er gieng mit ihnen zum König und sprach zu ihm: "Ich bringe
dir deine edle Gemahlin und deine drei Söhne; die Kammerfrau ist
eine trügerische Hexe und hat auch dich aufs schändlichste belogen
und betrogen." Als sie nun eben noch beim Umarmen waren und ihrer
Freude kein Maß zu finden wußten, kreischte es draußen,
und die Hexe kam hereingestürzt und schrie, und die Haare flogen
ihr nur so um den Kopf, und schrie: "Wer hat die Königin gestohlen
und meine schmucken Jungen eingeschläfert?" "Ha, Unthier",
sprach der Zwerg, "kennst du diesen Stab?" Sie wollte ihm denselben
aus der Hand reißen; bei der ersten Berührung indes schlief
sie ein, sank zu Boden, und der Zwerg zog ein Schwert und hieb ihr mit
einem einzigen Schlage das häßliche Haupt von den Schultern.
Damit war er verschwunden. Nach einer Weile reichte der König seiner
Gemahlin die Hand und bat um Verzeihung; "ich habe dir nie gegrollt",
versetzte sie, "ich wußte, du handeltest wider deinen Willen."
Nun wurde große Freude im Schloße und im ganzen Lande; die
drei Prinzen holten sich auch jeder bald eine schöne Prinzessin zur
Frau, und nach dem Tode des alten Königs erhielt der jüngste
Sohn das Reich. So wünschten es auch seine Brüder.
Quelle: Märchen
und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr.
14, S. 49 - 53.