Osten, Westen, Norden und Süden.
Mündlich in Wunstorf.
Es waren einmal vier Brüder, die hießen Osten, Westen, Norden und Süden; sie wohnten aber weit von einander und pflegten sich deshalb alle Jahr einmal zu besuchen. Einst hatten sie sich bei Osten versammelt, und als sie genug Raths gepflogen und genug gegeßen und getrunken hatten, wollte Westen nach Westen, Norden nach Norden und Süden nach Süden zurück; wohin sie sich aber auch wenden mochten, sie mußten über einen hohen Glasberg, auf welchem ein Menschenfreßer hauste. Norden versuchte zuerst den Glasberg zu erklettern; so oft er aber auch ansetzte, er rutschte jedesmal wieder herunter. Endlich erschien oben eine alte Frau, die rief: "Halt dich rechts und komm herauf!" Er hielt sich rechts, fand daselbst etwas wie eine alte Treppe, stieg hinauf und sprach zu der Frau: "Ich bin müde; kann ich hier übernachten?" "Nein," war die Antwort, "halt dich links und steig hinab." Als er dringender um Quartier bat, entgegnete jene: "Es geht nicht an; kommt der Menschenfreßer nach Haus, so bist du verloren." "Sei ohne Sorgen," fuhr Norden fort, "ich verstecke mich im Keller, wo er mich gewis nicht finden soll." Die alte Frau mochte warnen, so viel sie wollte; er stieg in den Keller und kroch durchs Spundloch in ein leeres Bierfaß. Gleich nachher trat der Menschenfreßer ins Haus, daß die Sparren knackten, und brüllte: "Ich rieche frisches Menschenfleisch." Die Frau antwortete: "Du bist nicht recht klug; es ist keins da." "Ich rieche frisches Menschenfleisch!" brüllte der Riese, durchsuchte das ganze Haus, gieng endlich in den Keller, zerschlug das leere Bierfaß und fraß den armen Norden auf. Hierauf verließ er das Haus wieder und stieg mit zwei Schritten den Berg hinab.
Als Norden halb hinauf war, fieng Westen auch zu klettern an und war einige Stunden nach jenem oben. Als er die alte Frau erblickte, sagte er: "Ich bin müde; kann ich hier übernachten?" "Nein", war die Antwort, "halt dich links und steig hinab." Er hörte nicht auf zu bitten; die Frau aber entgegnete: "Es geht nicht an; kommt der Menschenfreßer nach Haus, frißt er dich so gut, wie er den armen Norden gefreßen hat." "Ist Norden todt?" sagte Westen; "nun, mich soll er nicht finden!" Sie mochte warnen, so viel sie wollte; er stieg in den Keller und kroch durchs Spundloch in ein leeres Weinfaß. Gleich nachher trat der Menschenfreßer ins Haus, daß die Sparren knackten, und brüllte: "Ich rieche frisches Menschenfleisch." Die Frau antwortete: "Du bist nicht recht klug; es riecht noch von Norden." "Ich rieche frisches Menschenfleisch!" brüllte der Riese, durchsuchte das ganze Haus, gieng endlich in den Keller, zerschlug das leere Weinfaß und fraß den armen Westen auf. Hierauf verließ er das Haus wieder und stieg mit zwei Schritten den Berg hinab.
Als Westen halb hinauf war, fieng Süden auch zu klettern an und
war einige Stunden nach jenem oben. Als er die alte Frau erblickte, sagte
er: "Ich bin müde; kann ich hier übernachten?" "Nein",
war die Antwort, "halt dich links und steig hinab." Er hörte
nicht auf zu bitten; die Frau aber entgegnete: "Es geht nicht an;
kommt der Menschenfreßer nach Haus, frißt er dich so gut,
wie er Norden und Westen gefreßen hat." "Sind Norden und
Westen todt?" fragte Süden; "nun, so soll er's büßen!"
Und er eilte in den Garten, grub vor einem dichten Wacholderbusch ein
tiefes Loch, setzte einen Topf voll heißen Waßers hinein und
versteckte sich hinter den Busch. Jetzt kam der Menschenfreßer nach
Hause und brüllte: "Ich rieche frisches Menschenfleisch."
Die Frau antwortete: "Du bist nicht recht klug; es riecht noch von
Norden und von Westen." "Ich rieche frisches Menschenfleisch!"
brüllte der Riese, durchsuchte das ganze Haus und lief endlich in
den Garten. Als er hier Süden witterte, stürzte er auf den Wacholderbusch
los, fiel in die Grube und war todt. Rasch kam Süden hervor, zog
den Riesen heraus, schnitt ihm den Bauch auf, und Norden und Westen sprangen
wieder daraus hervor. Westen aber stöhnte: "Das war ein düsteres
Lager!" und Norden meinte: "Das war eine heiße Brühe!"
Hierauf gieng Norden nach Norden, Westen nach Westen und Süden nach
Süden.
Quelle: Märchen
und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr.
7, S. 32 - 34.