Die Zwerge im Perlberge.
Mündlich in Schellerten.
Vor langer, langer Zeit stand am Perlberge eine kleine Hütte, und
in der Hütte lebte ein fremder Mann mit seiner Frau und einem Töchterlein.
Rings um die Hütte lag auch ein großer Garten mit vielen Obstbäumen;
weil aber in dem Garten ein tiefer Teich war, kam das Kind nur selten
hinein. Einst gieng es wieder gegen den Herbst, und die Äpfel und
Birnen waren reif; da sprach der Vater zu dem Töchterchen: "Komm,
wir wollen den großen Birnbaum abkriegen." Während nun
jener pflückte und schüttelte, gieng das Kind aus der Gartenthür
und stieg den Hügel hinan; als die Eltern es vermissten, suchten
sie es im Teiche und überall und suchten es den ganzen Tag, fanden
es aber nicht. Gegen Abend kehrte es heim und hatte ein Stückchen
Kuchen in der Hand, von dem es eifrig aß. Als sie es fragten, wo
es gewesen sei, antwortete es: "Auf dem Berge, bei den kleinen Kindern."
Am folgenden Tage wollte der Vater einen großen Apfelbaum abnehmen
und gieng wieder mit der Tochter in den Garten. "Dießmal soll
sie dir aber nicht wieder entschlüpfen!" dachte er und behielt
sie lange sorgfältig im Auge; und sie entschlüpfte ihm doch
auf den Hügel. Auf dem Baume saßen nämlich mitten unter
den rothen Äpfeln viele weiße Blüten, und während
er die betrachtete, vergaß er des Kindleins. Wieder suchten sie
es den ganzen Tag, ohne es finden zu können, und als es gegen Abend
heimkehrte, hatte es ein großes Stück Kuchen auf der Hand,
das gab es den Eltern, da es selber satt war; es hatte aber auch viele
schöne Spielsachen, die waren alle von Gold, und diese behielt es
für sich selber und nahm sie mit in sein kleines Bett. Auf ihre Frage,
wo es gewesen sei, antwortete es: "Auf dem Berge, bei den kleinen
Kindern." Am folgenden Tage wollte der Vater Zwetschen schütteln
und nahm das Kind wieder mit; und dießmal hatte er beßer Acht!
Zwar saß ein wunderschöner Vogel auf dem Baume und sang, wie
sonst kein Vogel singen konnte; der Vater aber ließ sich nicht bethören:
er hörte nicht weiter auf den Vogel, sondern sah auf das Kind. Und
als es aus dem Garten war, schlich er sachte hinterher, und als es auf
dem Hügel war, sah er, wie eine kleine Thür aufgethan wurde,
aus der es heller strahlte, als die Sonne. Eben wollte das Kind eine feine
Hand ergreifen, die herauslangte; da faßte er es an und schlug mit
seiner Faust auf die Hand, daß es drinnen schrie und jammerte. Nun
setzte er sich auf die Kniee und schaute hinab, und welch eine Pracht!
Ein großer Saal war da unten, und zahllose Zwerge saßen an
einer güldenen Tafel und schmausten aus güldenem Geräth.
"Da ist das Gold billig!" dachte er, nahm das Kind auf den Arm
und holte einen blanken Spaten, grub mit demselben um die kleine Thür
die Erde weg und stieg hinab. Weil aber die Zwerge ihn jämmerlich
durchbläueten, eilte er wüthend nach Hause und setzte einen
Keßel voll Waßer auf das Feuer, und als es siedend heiß
war, goß er's von oben in den Saal. Das war ein Gewinsel da unten!
In der Nacht wurde es laut am Perlberge: die Zwerge zogen weg und zerstörten
ihrem Vertreiber den Garten und die Felder. Die übrigen Leute aber,
die von den Zwergen viel Gutes genoßen hatten, merkten kaum den
Abzug derselben, als sie herbeieilten und baten und bettelten, jene möchten
bleiben. Das geschah nun freilich nicht; doch ließen sich ein Schuster,
ein Schneider, ein Schmied, ein Bäcker und manche andere endlich
bewegen, so lange zu bleiben, bis die Menschen, für die sie bisher
immer gearbeitet hatten, ihnen die Künste abgelernt hätten.
Aber die meisten konnten das Leben auf Erden und die menschliche Kost
nicht vertragen und starben früh hinweg; einige machten sich bei
Nacht und Nebel aus dem Staube, und nur wenige hielten länger Stand,
unter diesen der Schmied, der hundertundsechzig Jahr alt wurde.
Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover,
Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 53, S. 163 - 164.